»Dein Ruf wird’s überleben«, sagte Roger grinsend. »Jemmy und ich sind nach der Sache mit dem Gewürzkuchen letzte Woche personae non gratae, aber Ehrwürden ist in Oma Bugs Augen doch unfehlbar. Sie würde ja nicht einmal etwas sagen, wenn du die gesamte Vorratskammer in einem Rutsch leer isst.«
Jamie leckte sich einen Honigtropfen aus dem Mundwinkel und trug die selbstzufriedene Miene eines Mannes, der bis ans Ende seiner Tage bei Mrs. Bug einen Stein im Brett hatte.
»Nun, das mag sein«, räumte er ein. »Trotzdem, wenn du vorhast, es auf mich zu schieben, wischst du dem Jungen besser zumindest einen Teil der Spuren ab, bevor wir heimgehen.«
Jemmy hatte sich mit zielstrebiger Konzentration auf den Leckerbissen gestürzt, mit dem Ergebnis, dass sein ganzes Gesicht vor Butter glänzte, ihm der Honig in bernsteinfarbenen Spuren über das Hemd lief und ihm eine Masse in den Haaren klebte, die aus halb gekauten Brötchenstücken zu bestehen schien.
»Wie zum Teufel hast du das so schnell geschafft?«, fragte Roger erstaunt. »Jetzt sieh dir an, was du mit deinem Hemd gemacht hast! Deine Mutter wird uns beide umbringen.« Er griff nach dem Handtuch und versuchte vergebens, einen Teil des Schlamassels abzuwischen, verteilte ihn dadurch jedoch nur weiter.
»Keine Sorge«, sagte Jamie geduldig. »Am Ende des Tages wird er so schmutzig sein, dass seine Mutter ein paar zusätzliche Krümel gar nicht bemerken wird. Vorsicht, Junge!« Eine rasche Handbewegung rettete ein halbes Brötchen, das abgebrochen war, als der Junge versuchte, sich das letzte Gebäckteil in einem Stück in den Mund zu stecken.
»Trotzdem«, sagte Jamie und biss nachdenklich in die gerettete Brötchenhälfte, während er seinen Enkel betrachtete. »Vielleicht sollten wir ihn im Bach ein wenig waschen. Wir wollen schließlich nicht, dass die Schweine den Honig an ihm riechen.«
Ein etwas beklommener Schauder überlief Roger, als er begriff, dass Jamie in Bezug auf die Schweine nicht scherzte. Es war gar nichts Ungewöhnliches, im nahen Wald Schweine zu sehen oder zu hören, die das Laub am Fuß der Eichen und Pappeln durchwühlten oder sich selig grunzend über einen Trog voll Kastanienmast hermachten. Um diese Jahreszeit hatten sie reichlich Futter, und für Erwachsene stellten die Schweine keine große Bedrohung dar. Ein kleiner Junge allerdings, der nach süßen Dingen roch … Man stellte sich immer vor, dass Schweine nur Wurzeln und Nüsse fraßen, aber Roger erinnerte sich lebhaft daran, dass er die große, weiße Sau erst vor ein paar Tagen mit dem nackten, blutverschmierten Schwanz eines Opossums im Maul gesehen hatte, auf dem sie genüsslich herumkaute.
Ein Brötchenstück schien ihm in der Kehle zu stecken. Er hob Jemmy hoch, obwohl er so klebte, und klemmte sich das kichernde Kind unter den Arm, so dass die Arme und Beine des Kleinen in der Luft baumelten.
»Na dann komm«, sagte Roger resigniert. »Es würde Mama ganz und gar nicht gefallen, wenn du von einem Schwein gefressen wirst.«
Neben dem Steinpfosten lagen Zaunpfähle aufgestapelt. Roger wühlte darin herum, bis er ein zersplittertes Stück fand, das kurz genug für seine Zwecke war, und benutzte es, um einen großen Granitbrocken so weit hochzuhebeln, dass er mit beiden Händen darunterfassen konnte. Er hockte sich nieder, hievte den Brocken auf seine Oberschenkel und stand ganz langsam auf. Sein Rücken richtete sich Wirbel für Wirbel auf, und seine Finger gruben sich vor Anstrengung in die mit Flechten bedeckte Oberfläche des Steins. Das Tuch, das er sich um den Kopf gebunden hatte, war klatschnass, und der Schweiß lief ihm über das Gesicht. Er schüttelte den Kopf, um seine Augen vom beißenden Schweiß zu befreien.
»Papa, Papa!«
Roger spürte, wie ihn plötzlich jemand an der Hose zupfte, kniff sich den Schweiß aus dem Auge und spreizte die Füße, um das Gleichgewicht zu behalten, ohne den schweren Felsbrocken fallen zu lassen. Er umklammerte ihn fester und blickte ärgerlich nach unten.
»Was denn, Junge?«
Jemmy hielt sich mit beiden Händen am Stoff der Hose fest. Sein Blick war auf den Wald gerichtet.
»Schwein, Papa«, flüsterte er. »Großes Schwein.«
Roger folgte der Blickrichtung des Kleinen und erstarrte.
Es war ein gewaltiger, schwarzer Eber, der vielleicht zwei Meter von ihm entfernt stand. Das Biest hatte eine Schulterhöhe von einem guten Meter und musste zweihundert Kilo oder mehr wiegen. Seine gelben, gebogenen Hauer waren so lang wie Jemmys Unterarm. Es stand erhobenen Kopfes da, und seine feuchte Schweineschnauze bewegte sich, als es nach etwas Essbarem oder einer Bedrohung witterte.
»Mist«, sagte Roger unwillkürlich.
Jemmy, der sich normalerweise auf jedes unachtsam geäußerte Schimpfwort gestürzt und es triumphierend herumposaunt hätte, klammerte sich jetzt nur fester an das Bein seines Vaters.
Die Gedanken rasten Roger durch den Kopf wie kollidierende Lastwagen. Würde es angreifen, wenn er sich bewegte? Er musste sich bewegen; seine Armmuskeln zitterten vor Anstrengung. Er hatte Jemmy mit Wasser abgewaschen; haftete dem Jungen immer noch der Geruch – oder das Aussehen – eines Artikels auf der Speisekarte des Schweins an?
Er zog einen zusammenhängenden Gedanken aus den Wrackteilen in seinem Kopf.
»Jemmy«, sagte er ganz ruhig. »Stell dich hinter mich. Und zwar sofort«, fügte er mit Nachdruck hinzu, als das Wildschwein den Kopf in ihre Richtung wandte.
Es sah sie; er konnte sehen, wie sich die kleinen, dunklen Augen auf ihn hefteten. Es trat ein paar Schritte vor, seine Hufe so klein und zierlich unter dem bedrohlichen Rumpf, dass sie geradezu absurd aussahen.
»Siehst du Opa, Jem?«, fragte er nach wie vor ruhig. Seine Arme waren von Flammen durchzogen, und seine Ellbogen fühlten sich an, als steckten sie in einem Schraubstock.
»Nein«, flüsterte Jemmy. Roger konnte spüren, wie sich der Kleine dicht hinter ihn drängte und sich an seine Beine presste.
»Dann sieh dich um. Er ist zum Bach gegangen; er muss aus dieser Richtung zurückkommen. Dreh dich um und schau nach.«
Der Eber war vorsichtig, aber nicht ängstlich. Das hatten sie nun davon, dass sie nicht oft genug Jagd auf diese Biester machten, dachte er. Sie sollten jede Woche ein paar davon im Wald zerlegen, als Lektion für den Rest.
»O-pa!« Jemmys Stimme erklang hinter ihm, schrill vor Angst.
Bei diesem Geräusch sträubten sich plötzlich auf dem ganzen Rücken des Schweins die groben Borsten, und es senkte den Kopf und spannte seine Muskeln an.
»Lauf, Jemmy!«, rief Roger. »Lauf zu Opa!« Ein Adrenalinstoß durchfuhr ihn, und plötzlich wog der Stein nichts mehr. Er schleuderte ihn auf das angreifende Schwein und erwischte es an der Schulter. Es gab ein überraschtes Whuff! von sich, knickte ein, dann öffnete es brüllend das Maul und stürzte mit blitzenden Hauern auf ihn zu.
Er konnte sich nicht zur Seite ducken und es vorbeilassen; Jemmy war immer noch dicht hinter ihm. Er trat mit aller Kraft vor den Kiefer des Schweins und stürzte sich dann auf das Tier, das er am Hals zu packen versuchte.
Seine Finger rutschten ab, denn sie fanden keinen Halt in dem drahtigen Haar und glitten an den harten, festen Speckrollen ab. Himmel, das war ja wie ein Ringkampf mit einem beweglichen Zementsack! Es spürte etwas Warmes und Feuchtes an seiner Hand und riss sie zurück; hatte es ihn erwischt? Er hatte keine Schmerzen. Vielleicht nur Speichel aus dem mahlenden Maul – vielleicht Blut aus einer Wunde, die zu tief war, um sie zu spüren. Keine Zeit zum Nachsehen. Er stieß erneut mit der Hand zu, hieb blind um sich, bekam ein borstiges Bein zwischen die Finger und riss fest daran.
Das Schwein fiel mit einem überraschten Quieken auf die Seite und schleuderte ihn von seinem Rücken. Er landete mit den Händen und einem Knie auf dem Boden und stieß sich das Knie an einem Stein. Schmerz durchfuhr ihn vom Knöchel bis zur Leiste, und er rollte sich unwillkürlich zusammen, im ersten Moment gelähmt vor Schrecken.