»Kommst du hier unten auch zurecht?«, fragte ich Ian skeptisch. Ich hatte ihm mehrere Quilts und ein Gänsekissen auf den Operationstisch gelegt, nachdem er Mr. Wemyss’ Angebot, in seinem Bett zu schlafen, und Mrs. Bugs Wunsch, ihm ein gemütliches Strohlager vor dem Küchenherd zu machen, höflich abgelehnt hatte.
»Oh, aye, Tante Claire«, sagte er und grinste mich an. »Du würdest nicht glauben, wo Rollo und ich schon übernachtet haben.« Er räkelte sich gähnend und blinzelnd. »Himmel, ich bin seit mindestens einem Monat nicht mehr bis nach Sonnenuntergang wach gewesen.«
»Und wahrscheinlich in der Morgendämmerung wieder auf. Deswegen dachte ich, du schläfst besser hier, falls du morgen gern lange schlafen möchtest.«
Da lachte er.
»Nur, wenn ich das Fenster offen lasse, so dass Rollo kommen und gehen kann, wie er will. Obwohl er anscheinend findet, dass es hier drinnen genug zu jagen gibt.«
Rollo saß mitten auf dem Fußboden, die Schnauze erwartungsvoll gehoben, die gelben Wolfsaugen reglos auf die obere Schranktür geheftet. Hinter der Tür erklang ein tiefes Summgeräusch wie kochendes Wasser in einem Kessel.
»Ich setze auf die Katze, Ian«, bemerkte Jamie, der jetzt in das Sprechzimmer trat. »Unser kleiner Adso ist ziemlich von sich eingenommen. Letzte Woche habe ich gesehen, wie er einen Fuchs gejagt hat.«
»Die Tatsache, dass du mit einem Gewehr hinter ihm her warst, hatte natürlich nichts damit zu tun, dass der Fuchs geflüchtet ist«, sagte ich.
»Zumindest nicht, was unsere Mieze hier angeht«, pflichtete Jamie mir grinsend bei.
Ian seufzte leise. »Es fühlt sich … sehr gut an, wieder Schottisch zu reden, Onkel Jamie.«
Jamies Hand strich Ian sacht über den Arm.
»Das kann ich mir vorstellen, a mhic a pheathar«, sagte er genau so leise. »Hast du dein Gälisch denn ganz vergessen?«
»’S beag ’tha fhios aig fear a bhaile mar ’tha fear na mara bèo«, erwiderte Ian, ohne zu zögern. Es war ein bekanntes Sprichwort: »Wenig weiß der Landmann vom Leben des Seemanns.«
Jamie lachte überrascht und zufrieden, und Ian grinste breit zurück. Sein Gesicht war tief gebräunt, und die aus Punkten zusammengesetzten Linien seiner Mohawktätowierungen verliefen in deutlichen Halbkreisen von der Nase zu den Wangenknochen – aber einen Moment sah ich den Schabernack in seinen haselnussbraunen Augen tanzen, und ich sah wieder den Jungen vor mir, den wir gekannt hatten.
»Ich habe im Kopf Dinge wiederholt«, sagte er, und sein Grinsen verblasste ein wenig. »Ich habe mir Gegenstände angesehen und im Kopf die Worte gesagt, um sie nicht zu vergessen – Arbhar, Coire.« Er warf Jamie einen schüchternen Blick zu. »Du hast mir doch gesagt, ich sollte nicht vergessen, Onkel Jamie.«
Jamie kniff die Augen zu, öffnete sie wieder und räusperte sich.
»So ist es, Ian«, murmelte er. »Und ich bin froh, dass ich es getan habe.« Er drückte Ian fest die Schulter – und dann lagen sie sich in den Armen und klopften sich wortlos vor Emotion gegenseitig auf den Rücken.
Bis ich mir die Augen ausgewischt und die Nase geputzt hatte, hatten sie sich wieder voneinander gelöst und eine betont beiläufige Haltung angenommen, während sie versuchten, meinen Absturz in die weibliche Sentimentalität zu ignorieren.
»Schottisch und Gälisch habe ich behalten, Onkel Jamie«, sagte Ian und räusperte sich ebenfalls. »Aber das Lateinische war ein bisschen zu viel für mich.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass du oft Gelegenheit gehabt hast, deine Lateinkenntnisse anzuwenden«, sagte Jamie. Er fuhr sich mit dem Hemdsärmel unter der Nase entlang und lächelte. »Es sei denn, ein wandernder Jesuit wäre zufällig des Weges gekommen.«
Bei diesen Worten machte Ian ein etwas seltsames Gesicht. Er blickte von Jamie zu mir, dann zur Tür des Sprechzimmers, um sicherzugehen, dass niemand kam.
»Nun, nicht ganz, Onkel Jamie«, sagte.
Er trat schweigend zur Tür, spähte in den Flur hinaus, dann schloss er leise die Tür und kam zum Tisch zurück. Er hatte einen kleinen Lederbeutel an der Taille getragen, der – abgesehen von Messer, Bogen und Köcher – alles zu enthalten schien, was er auf dieser Welt besaß. Er hatte ihn vorhin beiseitegelegt, ergriff ihn jetzt aber wieder und kramte kurz darin herum. Er zog ein kleines Buch hervor, das in schwarzes Leder gebunden war. Er reichte es Jamie, der es mit verwunderter Miene entgegennahm.
»Als ich – das heißt, kurz bevor ich aus Snaketown weggegangen bin, hat mir die alte Frau, Tewaktenyonh, dieses Büchlein gegeben. Ich hatte es schon einmal gesehen; Emily –« Er hielt inne, räusperte sich heftig, dann fuhr er ruhig fort. »Emily hat eine Seite für mich erbettelt, um euch einen Brief zu schreiben, in dem stand, dass es mir gut ging. Habt ihr ihn bekommen?«
»Ja, das haben wir«, versicherte ich ihm. »Jamie hat ihn später deiner Mutter geschickt.«
»Oh, aye?« Bei dem Gedanken an seine Mutter hellte sich Ians Miene auf. »Das ist gut. Ich hoffe, sie wird sich freuen zu hören, dass ich wieder da bin.«
»Darauf verwette ich, was du willst«, beruhigte ihn Jamie. »Aber was ist das?« Er hielt das Buch hoch und hob fragend eine Augenbraue. »Es sieht aus wie ein Priesterbrevier.«
»Das stimmt.« Ian nickte und kratzte sich an einem Mückenstich an seinem Hals. »Das ist es aber nicht. Sieh es dir an, aye?«
Ich trat dichter zu Jamie und blickte ihm über den Arm, als er das Buch öffnete. Dort, wo das Deckblatt herausgerissen worden war, war eine gezackte Papierkante. Doch es gab keine Titelseite, keinen Druck. Das Buch schien eine Art Tagebuch zu sein; die Seiten waren mit schwarzer Tinte vollgeschrieben.
Zwei Wörter standen einsam an der Spitze der ersten Seite, in großen, krakeligen Buchstaben hingekritzelt.
Ego sum, lauteten sie. Ich bin.
»Was du nicht sagst?«, murmelte Jamie halb zu sich selbst. »Aye, und wer magst du sein?« In der Mitte der Seite fuhr der Eintrag fort. Hier war die Schrift kleiner, kontrollierter, obwohl irgendetwas an ihr seltsam auszusehen schien.
»Prima cogitatio est. Das ist das Erste, was mir in den Sinn kommt«, übersetzte Jamie leise.
»Ich bin; ich existiere noch. Habe ich das in jenem Raum dazwischen auch getan? Ich muss es wohl, denn ich erinnere mich daran. Ich werde später versuchen, es zu beschreiben. Jetzt fehlen mir die Worte. Ich fühle mich sehr krank.«
Die Buchstaben waren klein und rundlich, jeder einzeln hingeschrieben. Die Arbeit eines ordentlichen und sorgfältigen Schreibers, doch sie schwankten wie betrunken, und die Zeilen verliefen schräg nach oben. Dem Aussehen seiner Aufzeichnungen nach fühlte er sich wirklich krank.
Als die ordentlichen Buchstaben auf der nächsten Seite fortfuhren, hatten sie sich beruhigt, genau wie die Nerven des Verfassers.
Ibi demum locus…
Dies ist also der Ort. Natürlich. Aber es ist auch die richtige Zeit, da bin ich mir sicher. Die Bäume, die Büsche sind anders. Im Westen war eine Lichtung, und jetzt ist sie vollständig mit Lorbeer überwuchert. Als ich den Kreis betrat, hatte ich eine große Magnolie vor Augen, und jetzt ist sie fort; an der Stelle steht ein Eichenschössling. Alles hört sich anders an. Kein Highwaylärm, keine Fahrzeuge in der Ferne. Nur Vögel, die sehr laut singen. Und Wind.
Mir ist immer noch schwindelig. Meine Beine sind schwach. Ich kann noch nicht stehen. Ich bin am Fuß der Wand aufgewacht, wo die Schlange sich in den Schwanz beißt, jedoch ein Stück von der Höhle entfernt, wo wir den Kreis ausgelegt haben. Ich muss dort hin gekrochen sein, ich habe Schmutz und Kratzer an Händen und Kleidern. Nach dem Erwachen habe ich eine Weile dort gelegen, zu schwach, um mich zu erheben. Jetzt geht es mir besser. Immer noch schwach, und mir ist übel, aber dennoch bin ich in Hochstimmung. Es hat funktioniert. Wir haben es geschafft.