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Vielleicht würde ich jetzt endlich erfahren, wer er gewesen war – und wie um alles in der Welt er so spektakulär zu Tode gekommen war.

»Er war kein großer Jäger«, sagte Jamie kritisch und musterte die Seite stirnrunzelnd. »Konnte nicht einmal ein Karnickel in einer Schlinge fangen, und das mitten im Sommer!«

Zum Glück für Otterzahn – wenn er es denn war –, war ihm eine Reihe essbarer Pflanzen vertraut gewesen, und er schien extrem mit sich zufrieden zu sein, weil er Paw-Paw und Persimonen identifizieren konnte.

»Eine Persimone zu erkennen, ist doch nichts Besonderes, zum Kuckuck«, sagte ich. »Sie sehen aus wie ein oranger Baseball!«

»Und sie schmecken wie der Bodensatz eines Nachttopfs«, fügte Jamie hinzu, der für Persimonen nicht das Geringste übrig hatte. »Trotzdem, er hatte Hunger, und wenn man hungrig genug ist …« Er verstummte und bewegte lautlos die Lippen, als er mit der Übersetzung fortfuhr.

Der Mann war eine Zeit lang durch die Wildnis gewandert – obwohl »wandern« nicht ganz das richtige Wort zu sein schien; mit Hilfe von Sonne und Sternen hatte er eine bestimmte Richtung gewählt. Das war ja seltsam – wonach hatte er gesucht?

Was auch immer es war, er hatte schließlich ein Dorf gefunden. Er sprach die Sprache der Bewohner nicht – »Wie kommt er darauf, dass er das sollte?«, fragte sich Jamie laut –, war jedoch seinen eigenen Worten nach furchtbar bestürzt gewesen, als er entdeckte, dass die Frauen in Eisenkesseln kochten.

»Davon hat Tewaktenyonh gesprochen«, unterbrach ich ihn. »Als sie mir von ihm erzählt hat – wenn es derselbe Mann ist«, fügte ich der Form halber hinzu, »hat sie gesagt, er hätte sich ständig über die Kochtöpfe und die Messer und Schusswaffen aufgeregt. Er sagte, die Indianer müssten – wie hat sie es formuliert? –, sie müssten ›wieder zu den Sitten ihrer Vorväter finden‹, sonst würde der weiße Mann sie lebendig verspeisen.«

»Ein äußerst reizbarer Mensch«, brummte Jamie, der weiter gebannt an dem Buch hing. »Und ein Gespür für Rhetorik hat er auch.«

Innerhalb der nächsten paar Seiten wurde klarer, warum Otterzahn so merkwürdig von den Kochtöpfen besessen war.

»Ich bin gescheitert«, las Jamie. »Ich bin zu spät.« Er streckte sich aus und sah mich an, dann fuhr er fort.

Ich weiß nicht genau, in welcher Zeit ich mich befinde, und habe auch keine Möglichkeit, es herauszufinden – diese Menschen messen die Jahre nicht nach einer mir bekannten Methode, selbst wenn ich ihre Sprache gut genug beherrschte, um sie zu fragen. Doch ich weiß, dass ich zu spät bin.

Wäre ich in der Zeit angekommen, in die ich wollte, vor 1650, gäbe es kein Eisen in einem Dorf, das sich so weit im Landesinneren befindet. Es hier in solch alltäglichem Gebrauch zu finden, bedeutet, dass ich mindestens fünfzig Jahre zu spät bin – vielleicht sogar mehr!

Diese Entdeckung hatte Otterzahn zutiefst hoffnungslos gestimmt, und er hatte mehrere Tage in größter Verzweiflung verbracht. Doch dann hatte er sich zusammengerissen und war zu dem Schluss gekommen, dass ihm nichts anderes übrig blieb als fortzufahren. Und so war er allein – allerdings mit einigem Proviant, den ihm die Dorfbewohner geschenkt hatten – nach Norden aufgebrochen.

»Ich habe keine Ahnung, was der Mann glaubte, was er tat«, merkte Jamie an. »Aber ich muss sagen, dass er Mut beweist. Seine Freunde sind tot oder verschwunden, und er trägt nichts bei sich, hat keine Ahnung, wo er ist – und doch macht er weiter.«

»Ja – obwohl ich, ehrlich gesagt, nicht glaube, dass er sich etwas anderes hätte einfallen lassen können«, sagte ich. Ich berührte erneut sanft das Buch und erinnerte mich dabei an die ersten paar Tage nach meiner eigenen Passage durch die Steine.

Natürlich mit dem Unterschied, dass dieser Mann die Steine aus freiem Willen durchquert hatte. Warum genau er es getan hatte – und wie –, hatte er uns noch nicht enthüllt.

Allein in der Wildnis unterwegs, mit diesem Büchlein als einzigem Begleiter, hatte Otterzahn beschlossen – so sagte er –, dass er seinen Verstand damit beschäftigen würde, einen Bericht von seiner Reise, seinen Motiven und Absichten zu Papier zu bringen.

Vielleicht wird mir mein Versuch – unser Versuch – ja nicht gelingen. Im Augenblick ist es sogar sehr wahrscheinlich, dass ich einfach hier in der Wildnis umkomme. Aber wenn das so ist, wird mich der Gedanke, dass eine Aufzeichnung unseres noblen Unterfangens zurückbleiben wird, ein wenig trösten – und es ist die einzige Gedenkstätte, die ich jenen errichten kann, die meine Brüder waren; meinen Begleitern bei diesem Abenteuer.

Jamie hielt inne und rieb sich die Augen. Die Kerze war weit heruntergebrannt; auch meine Augen tränten vom Gähnen so stark, dass ich im flackernden Licht der Kerze kaum die Seite sehen konnte, und ich fühlte mich benommen vor Erschöpfung.

»Lass uns aufhören«, sagte ich und legte den Kopf an Jamies Schulter, deren feste Wärme mich beruhigte. »Ich kann nicht länger wach bleiben, wirklich nicht – und es kommt mir nicht richtig vor, durch seine Geschichte zu hetzen. Außerdem –« Ich hielt inne, unterbrochen durch ein herzhaftes Gähnen, das mich schwanken und blinzeln ließ. »Vielleicht sollten Brianna und Roger das auch hören.«

Jamie ließ sich von meinem Gähnen anstecken und sperrte die Kiefer weit auf. Dann blinzelte er wie eine große, rote Eule, die jemand brutal von ihrem Baum geschüttelt hatte.

»Aye, du hast Recht, Sassenach.« Er schloss das Buch und legte es sanft auf den Tisch neben dem Bett.

Ich gab mich nicht mit einer Nachttoilette ab, sondern zog nur meine Überkleider aus, putzte mir die Zähne und kroch im Hemd ins Bett. Adso, der fröhlich auf dem Kissen geschlummert hatte, war verärgert, weil wir ihn um seinen Platz brachten, rückte jedoch auf Jamies Beharren hin griesgrämig zur Seite und verzog sich ans Fußende des Bettes, wo er sich wie eine große Pelzdecke auf meine Füße sacken ließ.

Einige Sekunden später jedoch vergaß er sein pikiertes Verhalten, knetete die Bettwäsche – und meine Füße – sanft mit seinen Krallen und begann, schläfrig vor sich hinzuschnurren.

Ich empfand seine Anwesenheit als fast genauso beruhigend wie Jamies sanftes, regelmäßiges Schnarchen. Den Großteil der Zeit fühlte ich mich zu Hause, sicher an dem Platz, den ich mir in dieser Welt geschaffen hatte, glücklich, bei Jamie zu sein, ganz gleich, unter welchen Umständen. Doch dann und wann sah ich die Kluft, die ich überquert hatte, in ihrer ganzen Größe deutlich vor mir – den Schwindel erregenden Verlust der Welt, in die ich geboren worden war – und fühlte mich sehr allein. Und hatte Angst.

Die Worte dieses Mannes zu hören, seine Panik und Verzweiflung, hatte in mir die Erinnerungen an den Schrecken und die Zweifel meiner Reisen durch die Steine wieder geweckt.

Ich schmiegte mich dicht an meinen schlafenden Mann, gewärmt und fest verankert, und hörte Otterzahns Worte, als würden sie in meinem inneren Ohr ausgesprochen – ein Schrei der Trostlosigkeit, der durch alle Barrieren der Zeit und der Sprachen hallte.

Am Fuß der Seite war die winzige, lateinische Schrift immer hastiger geworden, einige Buchstaben nicht mehr als Tintenpunkte, die Enden mancher Worte in einem hektischen Spinnentanz verschluckt. Und dann die letzten Zeilen, auf Englisch verfasst, weil sich das Latein des Verfassers in Verzweiflung auflöste.

O Gott, o Gott

Wo sind sie?

Erst am Nachmittag des nächsten Tages gelang es uns, Brianna, Roger und Ian zusammenzuholen und uns in Jamies Studierzimmer zurückzuziehen, ohne ungewollte Aufmerksamkeit zu erregen. Die vergangene Nacht, der Dunstschleier der Erschöpfung, der Ians plötzlichem Erscheinen auf dem Fuße gefolgt war, all dies zusammen ließ fast alles vorstellbar erscheinen. Doch während ich im hellen Licht des Morgens meinen Aufgaben nachging, fiel es mir zunehmend schwer zu glauben, dass das Tagebuch tatsächlich existierte und ich dies nicht nur geträumt hatte.