»Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Ich hatte einmal die Vermutung – aber, nein, ich weiß es nicht.«
»Was denn?« Ian blickte verwirrt zwischen uns beiden hin und her. Ich schüttelte den Kopf und strich mir die Haare glatt.
»Das tut jetzt nichts zur Sache. Jemand, mit dem ich in Paris bekannt war, hieß Raymond, und ich dachte – aber was um alles in der Welt sollte er neunzehnhundertachtundsechzig in Amerika gewollt haben?«, platzte ich heraus.
»Nun, du warst doch auch da, aye?«, stellte Jamie fest. »Aber lassen wir das fürs Erste beiseite –« Er wandte sich wieder dem Text zu, den er in dem seltsam gestelzten Englisch der Übersetzung vor uns ausbreitete: Weil ihn Raymond faszinierte, hatte sich Otterzahn wiederholt mit dem Mann getroffen und auch mehrere seiner besten Freunde mitgenommen. Nach und nach hatten sie das Projekt entwickelt – einen großen, kühnen Plan von atemberaubenden Dimensionen. »Wie bescheiden er ist, nicht wahr?«, murmelte Roger.
Es gab eine Prüfung. Viele haben sie nicht geschafft, ich aber schon. Fünf von uns haben die Prüfung bestanden und die Stimme der Zeit gehört, fünf von uns, die mit und bei unserem Blut geschworen haben, dass wir dieses großartige Vorhaben durchführen würden, um unser Volk vor der Katastrophe zu bewahren. Um seine Geschichte neu zu schreiben und die Verbrechen wiedergutzumachen, um …
Roger stöhnte leise auf.
»O Gott«, sagte er. »Was hatten sie denn vor – Christoph Columbus zu ermorden?«
»Nicht ganz«, sagte ich. »Er wollte eigentlich vor dem Jahr sechzehnhundert herauskommen. Was ist damals geschehen, weißt du das?«
»Ich weiß nicht, was damals geschehen ist«, sagte Jamie zu mir und fuhr sich mit der Hand durch das Haar, »aber ich weiß genau, was er vorhatte. Sein Plan war es, zum Irokesenbund zu gehen und ihn gegen die weißen Siedler aufzubringen. Er glaubte, dass es damals erst so wenige Siedler gab, dass die Indianer sie mit Leichtigkeit auslöschen konnten, wenn die Irokesen ihnen voranzogen.«
»Vielleicht hatte er Recht«, sagte Ian leise. »Ich habe die Alten die Geschichten erzählen hören. Als die ersten O’seronni kamen, wie man sie willkommen geheißen hat, wie sie Tauschwaren mitbrachten. Vor hundert Jahren gab es erst wenige O’seronni – und die Kahnyen’kehaka waren die Herren, die Anführer der Nationen. Aye, sie hätten es schaffen können – wenn sie gewollt hätten.«
»Nun, aber er hätte die Europäer doch unmöglich aufhalten können«, wandte Brianna ein. »Sie waren einfach viel zu viele. Er wollte die Mohawk doch nicht zu einer Invasion in Europa bewegen, oder?«
Bei diesem Gedanken wanderte ein breites Grinsen über Jamies Gesicht.
»Da wäre ich gern dabei gewesen«, sagte er. »Die Mohawk hätten den Sassenachs schwer zu denken gegeben. Aber nein, leider –«, er warf mir einen sardonischen Blick zu, »war unser Freund Robert Springer doch nicht ganz so ehrgeizig.«
Was Otterzahn und seine Gefährten geplant hatten, war jedoch ehrgeizig genug gewesen – und vielleicht … nur vielleicht … möglich. Es war nicht ihre Absicht, die Ansiedlung von Weißen ganz zu verhindern – sie waren doch hinreichend bei Verstand gewesen, um zu erkennen, dass das ein Ding der Unmöglichkeit war. Was sie vorhatten, war, den Argwohn der Indianer gegenüber den Weißen zu wecken, so dass sie ihre eigenen Handelsbedingungen stellten und von einer Machtposition aus verhandelten.
»Anstatt zuzulassen, dass sie sich in großer Zahl ansiedelten, wollten sie die Weißen in kleinen Städtchen isoliert halten. Anstatt ihnen zu erlauben, dass sie sich verschanzten, wollten sie von Anfang an Waffen fordern. Ein Handelswesen zu ihren eigenen Bedingungen aufbauen. Dafür sorgen, dass sie in der Überzahl blieben, besser bewaffnet blieben – und die Europäer zwingen, sie den Umgang mit Metallen zu lehren.«
»Die Rückkehr des Prometheus«, sagte ich, und Jamie prustete los.
Roger schüttelte halb bewundernd den Kopf.
»Es ist der Plan eines Verrückten«, sagte er, »aber man muss bewundern, welche Nerven sie hatten. Es hätte tatsächlich funktionieren können – wenn sie den Irokesenbund hätten überzeugen können, und wenn sie zum richtigen Zeitpunkt gehandelt hätten, bevor die Europäer die Übermacht erlangten. Es ist aber alles misslungen, nicht wahr? Zuerst landet er in der falschen Zeit – viel zu spät –, und dann stellt er fest, dass keiner seiner Freunde es mit ihm geschafft hat.«
Ich sah, wie auf Briannas Armen eine Gänsehaut entstand, und fing den Blick auf, den sie mir zuwarf – einen Blick plötzlichen Verstehens. Sie hatte sich vorgestellt, wie es wirklich war, unversehens aus der eigenen Zeit zu kommen – und sich allein zu finden.
Ich lächelte sie kurz an und legte meine Hand auf Jamies Arm. Geistesabwesend legte er die seine auf die meine und drückte sie sacht.
»Aye. Er wäre fast verzweifelt, sagt er, als ihm klar wurde, dass alles misslungen war. Er erwägte, zurückzukehren – aber er hatte keinen Edelstein mehr, und dieser Raymond hatte gesagt, dass man zu seinem Schutz einen brauchte.«
»Er hat aber schließlich doch einen gefunden«, sagte ich. Ich stand auf, griff auf das obere Regalbord und holte den großen Rohopal hervor, dessen inneres Feuer durch die Spirale hindurchschimmerte, die in seine Oberfläche eingeritzt war.
»Das heißt – vorausgesetzt, dass es nicht mehrere Indianer namens Otterzahn gegeben haben kann, die etwas mit Snaketown zu tun hatten.« Tewaktenyonh, eine ältere Mohawkfrau, die dem Rat der Mütter vorsaß, hatte mir den Stein gegeben, als wir in das Dorf Snaketown gekommen waren, um Roger aus der Gefangenschaft zu befreien. Sie hatte mir außerdem die Geschichte von Otterzahn erzählt und davon, wie er zu Tode gekommen war – und ich erschauerte, obwohl es warm im Zimmer war.
Der große, glatte Stein fühlte sich warm in meiner Hand an; ich rieb vorsichtig mit dem Daumen über die Spirale. Die Schlange, die sich in den Schwanz beißt, hatte er gesagt.
»Aye. Davon ist aber hier keine Rede.« Jamie lehnte sich zurück und fuhr sich mit beiden Händen durch das lose Haar, dann rieb er sich mit einer Hand über das Gesicht. »Die Geschichte endet damit, dass er zu dem Schluss kommt, dass ihm kein Ausweg bleibt; ganz gleich, in welchem Jahr er sich befindet – und er hatte keine Ahnung – und ob er allein war oder nicht, er würde seinen Plan ausführen.«
Alle schwiegen einen Moment bei dem Gedanken an die gigantischen Dimensionen – und die Vergeblichkeit – eines solchen Plans.
»Er kann doch nicht geglaubt haben, dass es funktionieren würde«, sagte Roger, und das heisere Rasseln seiner Stimme verlieh seinen Worten etwas Endgültiges.
Jamie schüttelte den Kopf und blickte auf das Buch nieder, obwohl seine Augen eindeutig durch das Papier hindurchsahen, dunkelblau und weit fort.
»Das hat er auch nicht«, sagte er leise. »Was er hier zum Schluss sagt«, seine Finger berührten sanft die Seite, »ist, dass Tausende von Menschen aus seinem Volk für ihre Freiheit gestorben waren, dass Tausende mehr in den kommenden Jahren sterben würden. Er würde ihren Weg gehen, um der Ehre seines Blutes willen, und im Kampf zu sterben, sei alles, was ein Krieger der Mohawk verlangen könne.«
Ich hörte, wie Ian hinter mir seufzend Atem holte, und Brianna senkte den Kopf, so dass ihr leuchtendes Haar ihr Gesicht verbarg. Rogers Gesicht wiederum war ihr zugewandt, und sein Profil war ernst – doch ich sah keinen von ihnen. Ich sah einen Mann, dessen Gesicht zum Zeichen des Todes schwarz angemalt war und der bei Nacht durch einen triefend nassen Wald ging, eine Fackel in der Hand, deren Flamme kalt brannte.
Ein Ruck an meinem Rock riss mich von dieser Vision los, und als ich zu Boden blickte, sah ich Jemmy neben mir stehen. Er zog an meiner Hand.
»Wasdas?«
»Was – oh! Es ist ein Stein, Schätzchen; ein hübscher Stein, siehst du?« Ich hielt ihm den Opal hin, und er ergriff ihn mit beiden Händen und ließ sich auf den Hintern plumpsen, um ihn sich anzusehen.