Weitere Experimente förderten zu Tage, dass sich der Stein für Brianna, Roger und mich warm anfühlte – wenn auch nicht übermäßig –, nicht aber für Jamie oder Ian. Inzwischen war das Wachs an der Oberfläche der großen Stundenkerze geschmolzen, so dass Jamie die Edelsteine hervorholen konnte, die er darin versteckt hatte. Er fischte sie heraus, rieb die letzten, heißen Wachsreste an seinem Taschentuch ab und legte sie zum Abkühlen nebeneinander auf die Schreibtischkante.
Jemmy beobachtete dies mit großem Interesse. Er hatte sein Missgeschick offensichtlich vergessen.
»Gefallen sie dir, an ghille ruaidh?«, fragte ihn Jamie, und er nickte lebhaft und beugte sich auf dem Schoß seiner Mutter vor, um nach den Steinen zu greifen.
»Heiß«, sagte er dann und erinnerte sich. Er fuhr ein wenig zurück, und eine zweifelnde Miene überzog seine kleinen, klaren Gesichtszüge. »Heiß?«
»Nun, das will ich nicht hoffen«, sagte sein Großvater. Er holte tief Luft und ergriff den Smaragd, einen grob geschliffenen Stein, der etwa so groß war wie sein Daumennagel. »Halt mir die Hand hin, a bailach.«
Brianna machte ein Gesicht, als wollte sie protestieren, biss sich aber auf die Unterlippe und ermunterte Jemmy zu tun, was sein Großvater sagte. Er ergriff den Stein, immer noch mit argwöhnischem Gesicht, doch dann wich seine Miene einem Lächeln, als er auf den Stein hinunterblickte.
»Stein hübsch!«
»Ist er heiß?«, fragte Brianna, die sich bereit hielt, ihn ihm aus der Hand zu reißen.
»Ja, heiß«, sagte er voller Genugtuung und hielt ihn an seinen Bauch.
»Lass Mama sehen.« Unter leichten Schwierigkeiten gelang es Brianna, den Stein zu fassen zu bekommen, wenn Jemmy ihn auch nicht hergeben wollte. »Er ist warm«, sagte sie und blickte auf. »Wie das Opalstück – aber nicht sehr heiß. Wenn er sehr heiß wird, lässt du ihn ganz schnell fallen, okay?«, sagte sie zu Jemmy.
Roger hatte sie fasziniert beobachtet.
»Er hat’s, nicht wahr?«, sagte er leise. »Fünfzig zu fünfzig, hast du gesagt, oder drei zu vier, je nachdem – aber er hat’s, nicht wahr?«
»Was denn?« Jamie sah erst Roger an, dann mich, und zog eine Augenbraue fragend hoch.
»Ich glaube, er kann … reisen«, sagte ich, und bei dem Gedanken wurde mir eng ums Herz. »Du weißt doch, was Otterzahn gesagt hat –« Ich deutete auf das Tagebuch, das vergessen auf dem Schreibtisch lag. »Er sagt, sie mussten eine Prüfung absolvieren – um zu sehen, ob sie ›die Stimme der Zeit hören konnten‹. Wir wissen, dass nicht jeder … das kann.« Ich verspürte eine unerklärliche Scheu, vor Ian davon zu sprechen. »Aber manche Menschen können es. Nach dem, was Otterzahn gesagt hat, gab es eine Möglichkeit, im Voraus herauszufinden, wer es konnte und wer nicht, ohne es tatsächlich versuchen zu müssen.«
Jemmy beachtete die Unterhaltung der Erwachsenen nicht weiter, sondern wiegte sich stattdessen hin und her und summte dem Stein, den er mit seiner pummeligen Hand umklammerte, etwas vor.
»Und du meinst, die ›Stimme der Zeit‹ ist – Jemmy, kannst du den Stein hören?« Roger beugte sich vor und ergriff Jemmys Arm, um seine Aufmerksamkeit von dem Smaragd abzulenken. »Jemmy, hörst du den Stein singen?«
Jemmy blickte überrascht auf.
»Nein«, sagte er unsicher. Dann: »Ja.« Er hielt sich den Stein stirnrunzelnd ans Ohr, dann hielt er ihn Roger hin. »Du singen, Papa!«
Roger nahm den Smaragd vorsichtig entgegen und lächelte Jemmy an.
»Das würde den Stein nur erweichen«, sagte er mit seiner heiseren Rasselstimme. Mit befangener Miene hob er den Stein an sein Ohr. Er lauschte konzentriert und mit gerunzelter Stirn, dann ließ er die Hand sinken und schüttelte den Kopf.
»Es ist nicht – ich kann nicht – ich könnte eigentlich nicht sagen, dass ich etwas höre. Und doch – hier, versuch du’s.« Er reichte den Stein an Brianna weiter, sie wiederum an mich. Keiner von uns konnte etwas Konkretes hören, und doch hatte ich das Gefühl, etwas wahrzunehmen, wenn ich ganz genau hinhörte. Eigentlich kein Geräusch, eher das Gefühl einer sehr, sehr schwachen Vibration.
»Was ist denn los?«, fragte Ian. Er hatte das Geschehen mit gebanntem Interesse verfolgt. »Ihr drei seid keine sidheanach – aber warum könnt ihr dann … was ihr könnt, und Onkel Jamie und ich können es nicht. Du kannst es doch nicht, oder, Onkel Jamie?«, fragte er argwöhnisch.
»Nein, Gott sei Dank nicht«, erwiderte sein Onkel.
»Es ist genetisch bedingt, nicht wahr?«, fragte Brianna und blickte auf. »Es muss genetisch bedingt sein.«
Jamie und Ian machten argwöhnische Gesichter, als sie diesen unvertrauten Begriff hörten.
»Genetisch?«, fragte Ian. Seine buschigen Brauen zogen sich verwundert zusammen.
»Warum nicht?«, sagte ich. »Alles andere ist doch auch genetisch bedingt – die Blutgruppe, die Augenfarbe.«
»Aber Augen und Blut hat jeder, Sassenach«, wandte Jamie ein. »Welche Augenfarbe man hat, kann jeder sehen. Das hier –« Er wies auf die kleine Ansammlung von Steinen.
Ich seufzte ungeduldig auf.
»Ja, aber es gibt noch andere Dinge, die genetisch bedingt sind – alles, wenn man es genau betrachtet! Schau her –« Ich wandte mich ihm zu und streckte meine Zunge heraus. Jamie kniff die Augen zusammen und riss sie wieder auf, und Brianna kicherte über seinen Gesichtsausdruck.
Ohne sie zu beachten, zog ich meine Zunge ein und streckte sie erneut heraus. Diesmal hatte ich ihre Kanten zu einem Zylinder eingerollt.
»Was ist hiermit?«, fragte ich, nachdem ich sie wieder eingezogen hatte. »Kannst du das?«
Jamie grinste.
»Natürlich kann ich das.« Er streckte die Zunge heraus und wackelte zur Demonstration damit, dann zog er sie wieder ein. »Das muss doch jeder können. Ian?«
»Oh, aye, natürlich.« Ian demonstrierte es bereitwillig. »Jeder kann das.«
»Ich kann es nicht«, sagte Brianna. Jamie starrte sie verblüfft an.
»Wie meinst du das, du kannst es nicht?«
»Bäh.« Sie streckte ihre flache Zunge heraus und wackelte von rechts nach links. »Ich kann es nicht.«
»Natürlich kannst du es.« Jamie runzelte die Stirn. »Da, es ist ganz einfach, Kleine – das kann wirklich jeder!« Er streckte erneut die Zunge heraus und rollte sie ein und aus wie ein väterlicher Ameisenbär, der seinen Nachwuchs eifrig ermuntert, sich über eine appetitliche Insektenmasse herzumachen. Er zog die Augenbrauen hoch und sah Roger an.
»Das hast du dir so gedacht, wie?«, sagte Roger. Er streckte seinerseits die Zunge heraus – flach. »Bäh.«
»Seht ihr?«, sagte ich triumphierend. »Manche Menschen können ihre Zunge einrollen, und manche können es einfach nicht. Man kann es nicht lernen. Entweder ist es einem angeboren oder nicht.«
Jamie blickte stirnrunzelnd von Brianna zu Roger, dann wandte er sich mir zu.
»Nehmen wir einmal an, dass du Recht hast – warum kann Brianna es nicht, obwohl du und ich es können? Du hast mir doch versichert, dass sie meine Tochter ist, aye?«
»Sie ist mit absoluter Sicherheit deine Tochter«, sagte ich. »Wie dir jeder, der Augen im Kopf hat, bestätigen könnte.« Er musterte Brianna und ließ den Blick über ihren schlanken, hochgewachsenen Körper und ihre roten Haarmassen schweifen. Sie lächelte ihn an und kniff die blauen Augen zu Dreiecken zusammen. Er erwiderte ihr Lächeln und kapitulierte mit einem gutmütigen Achselzucken.
»Nun, ich nehme dich bei deinem Wort als Ehrenfrau, Sassenach. Aber was ist dann mit der Zunge?« Er rollte die seine erneut skeptisch zusammen, denn er konnte immer noch nicht ganz glauben, dass es nicht jeder konnte, wenn er nur wollte.
»Nun, du weißt ja, wo die Babys herkommen«, begann ich. »Das Ei und die …«
»Das weiß ich«, sagte er mit hörbar gereiztem Unterton. Seine Ohrenspitzen liefen schwach rot an.
»Ich meine, jedes Baby hat etwas von seinem Vater und etwas von seiner Mutter.« Ich konnte spüren, wie auch meine Ohren rot wurden, fuhr jedoch tapfer fort. »Manchmal ist der Einfluss des Vaters deutlicher zu sehen als der der Mutter; manchmal ist es umgekehrt – aber beider … äh … Einflüsse sind dennoch da. Wir nennen sie Gene – die Dinge, die ein Baby von seinen beiden Eltern mitbekommt und die sein Aussehen und seine Fähigkeiten beeinflussen.«