»Wirklich?« Er machte ein etwas erschrockenes Gesicht. »Dann weiß er es schon?«
»Ja, ich denke, es kommt schon in Ordnung, sobald er den Sheriff findet.« Ich drehte die angeschlagene Teekanne, die ich unterwegs benutzte, mit einer Hand um, schüttete die alten Teeblätter auf den Boden, stellte sie auf den Tisch und goss ein wenig kochendes Wasser aus dem Kessel hinein, um die Kanne vorzuwärmen. Es war ein langer Tag gewesen, und der Abend würde wahrscheinlich genauso lang werden. Ich freute mich auf eine anständige, belebende Tasse Tee und dazu eine Scheibe des Früchtekuchens, den ich bei der Morgensprechstunde von einer meiner Patientinnen bekommen hatte.
»Den Sheriff?« Roger warf Brianna einen verblüfften Blick zu, unter den sich ein Hauch von Alarmiertheit mischte. »Sie hat mir doch nicht etwa einen Sheriff auf den Hals gehetzt, oder?«
»Dir einen Sheriff auf den Hals gehetzt? Wer denn?«, stimmte ich in den Chor der Verblüfften ein. Ich hängte den Kessel wieder an seinen Dreifuß und griff nach der Teedose. »Was in aller Welt hast du angestellt, Roger?«
Eine schwache Röte erschien auf seinen hohen Wangen, doch bevor er antworten konnte, schnaubte Brianna los.
»Tante Jocasta die Meinung gesagt.« Sie sah Roger an, und ihre Augen verengten sich zu Dreiecken, in denen sich leichte Schadenfreude mit Belustigung mischte, als sie sich die Szene vorstellte. »Mensch, wäre ich gern dabei gewesen.«
»Was hast du denn zu ihr gesagt?«, erkundigte ich mich interessiert.
Die Röte nahm zu, und er wandte den Blick ab.
»Das möchte ich nicht wiederholen«, sagte er knapp. »Es war nicht die Art von Dingen, die man zu einer Frau sagt, geschweige denn einer älteren Dame, erst recht nicht, wenn sie im Begriff ist, zu einer angeheirateten Verwandten zu werden. Ich habe Brianna gerade gefragt, ob ich vielleicht zu Mrs. Cameron gehen und mich vor der Hochzeit noch entschuldigen sollte.«
»Nein«, sagte Brianna prompt. »Die hat vielleicht Nerven! Es war dein gutes Recht zu sagen, was du gesagt hast.«
»Na ja, den Inhalt meiner Worte bedauere ich ja auch nicht«, sagte Roger mit dem Anflug eines trockenen Lächelns zu ihr. »Nur die Form.«
»Verstehst du«, sagte er an mich gewandt, »ich überlege nur, ob ich mich entschuldigen sollte, damit es heute Abend nicht zu peinlich wird – ich möchte Brianna die Hochzeit nicht verderben.«
»Mir? Meinst du, ich heirate alleine?«, fragte sie und sah ihn mit gerunzelten Augenbrauen an.
»Oh, na ja, nein«, sagte er mit einem kleinen Lächeln. Er fasste ihr sanft an die Wange. »Ich werde schon neben dir stehen, keine Frage. Und solange wir am Ende verheiratet sind, ist mir die Zeremonie ziemlich egal. Aber du hättest es doch gern schön, oder? Und es wäre doch ein Dämpfer, wenn deine Tante mir eins mit einem Holzscheit über den Schädel brät, bevor ich ›ja‹ sagen kann.«
Inzwischen brannte ich vor Neugier zu erfahren, was er zu Jocasta gesagt hatte, doch ich hielt es für besser, das nahe liegendere Problem zu schildern, dass es nämlich bei Redaktionsschluss sehr den Anschein hatte, dass es gar keine Hochzeit zu verderben geben würde.
»Also ist Jamie jetzt auf der Suche nach Vater Kenneth«, schloss ich. »Marsali kannte den Sheriff aber nicht, der ihn verhaftet hat, was ihm dies erschwert.«
Rogers dunkle Augenbrauen fuhren hoch, dann zogen sie sich zu einem besorgten Ausdruck zusammen.
»Ich frage mich …«, sagte er an mich gewandt. »Weißt du, ich glaube, ich habe ihn noch vor ein paar Minuten gesehen.«
»Vater Kenneth?«, fragte ich und hielt mit dem Messer über dem Früchtekuchen inne.
»Nein, den Sheriff.«
»Was? Wo?« Brianna fuhr auf dem Absatz halb herum und sah sich funkelnd um. Ihre Hand ballte sich zur Faust, und ich hielt es für eine ausgesprochen glückliche Fügung, dass der Sheriff nirgendwo in Sicht war. Eine Verhaftung Briannas wegen eines tätlichen Angriffs würde der Hochzeit tatsächlich einen Dämpfer versetzen.
»Er ist in diese Richtung gegangen.« Roger zeigte bergab in Richtung des Bachlaufes – und des Zeltes von Leutnant Hayes. In diesem Moment hörten wir Schritte durch den Schlamm platschen, und Sekunden später tauchte Jamie wieder auf. Er sah müde, besorgt und ausgesprochen verärgert aus. Offensichtlich hatte er den Priester noch nicht gefunden.
»Pa!«, begrüßte Brianna ihn aufgeregt. »Roger meint, er hat den Sheriff gesehen, der Vater Kenneth verhaftet hat.«
»Oh, aye?« Jamies Lebensgeister erwachten augenblicklich wieder. »Wo denn.« Seine linke Hand ballte sich erwartungsvoll zur Faust, und ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. »Was ist denn so lustig?«, wollte er wissen, als er das sah.
»Nichts«, versicherte ich ihm. »Hier, iss ein Stück Früchtekuchen.« Ich reichte ihm eine Scheibe, die er sich prompt in den Mund stopfte, um seine Aufmerksamkeit dann wieder auf Roger zu richten.
»Wo?«, wiederholte er undeutlich.
»Ich weiß nicht genau, ob es der Mann ist, den du suchst«, sagte Roger zu ihm. »Es war ein kleiner, schäbiger Mann. Aber er hatte jemanden festgenommen; er war gerade dabei, einen der Männer aus Drunkard’s Creek in Handschellen abzuführen. MacLennan, glaube ich.«
Jamie verschluckte sich und hustete, wobei er kleine Kuchenbröckchen in das Feuer spie.
»Er hat Mr. MacLennan verhaftet? Und das hast du zugelassen?« Brianna starrte Roger erzürnt an. Weder sie noch Roger waren dabei gewesen, als Abel MacLennan beim Frühstück seine Geschichte erzählte, aber sie kannten ihn beide.
»Ich konnte ihn kaum daran hindern«, erwiderte Roger geduldig. »Ich habe MacLennan gefragt, ob er Hilfe bräuchte – wenn ja, dann hatte ich vor, deinen Pa oder Farquard Campbell zu holen. Aber er hat einfach nur durch mich hindurchgesehen, als wäre ich ein Geist, und als ich meine Frage wiederholt habe, hat er mich seltsam angelächelt und den Kopf geschüttelt. Ich war nicht der Ansicht, dass ich den Sheriff nur aus Prinzip verprügeln sollte. Aber wenn du –«
»Kein Sheriff«, sagte Jamie heiser. Ihm tränten die Augen, und er hielt inne, um erneut heftig zu husten.
»Ein Diebesfänger«, sagte ich zu Roger. »Das muss so etwas Ähnliches wie ein Kopfgeldjäger sein.« Der Tee war noch lange nicht fertig; ich fand eine halb volle Steingutflasche mit Ale und reichte sie Jamie.
»Wohin mag er Abel bringen?«, fragte ich. »Du hast doch gesagt, Hayes will keine Gefangenen.«
Jamie schüttelte den Kopf, schluckte und ließ die Flasche sinken. Jetzt fiel ihm das Atmen leichter.
»Das will er auch nicht. Nein, Mr. Boble – er muss es sein, aye? – bringt Abel zum nächsten Magistrat. Und wenn der gute Roger ihn gerade gesehen hat …« Er wandte sich mit nachdenklich gerunzelter Stirn auf dem Berghang um.
»Dann ist es höchstwahrscheinlich Farquard«, schloss er, und seine Schultern entspannten sich ein wenig. »Ich weiß von vier Friedensrichtern und drei Magistraten, die hier sind, und Campbell ist der Einzige von ihnen, der sein Lager auf dieser Seite hat.«
»Oh, das ist gut.« Ich seufzte erleichtert auf. Farquard Campbell war ein gerechter Mann; gesetzestreu bis ins letzte Detail, aber nicht ohne Mitgefühl – und, was womöglich noch wichtiger war, ein sehr alter Freund von Jocasta Cameron.
»Aye, wir werden meine Tante bitten, ein gutes Wort für ihn einzulegen.« Er wandte sich an Roger. »Gehst du zu ihr, MacKenzie? Ich muss Vater Kenneth finden, wenn es überhaupt eine Hochzeit geben soll.«
Roger machte ein Gesicht, als hätte er sich seinerseits gerade an einem Stück Früchtekuchen verschluckt.
»Äh … nun ja«, sagte er. »Vielleicht bin ich im Augenblick nicht der geeignete Mann, um mit Mrs. Cameron zu reden.«
Jamie starrte ihn mit einer Mischung aus Interesse und Ungeduld an.
»Wieso denn nicht?«
Mit puterrotem Gesicht wiederholte Roger die Grundzüge seiner Unterhaltung mit Jocasta Cameron – und senkte gegen Ende seine Stimme bis fast zur Unhörbarkeit.