»Da oben«, sagte Rabbie überflüssigerweise und zeigte auf die Spitze eines großen Zeltes, die gerade eben hinter einer Wand aus langnadeligen Kiefern zu sehen war.
Jamie gab beim Anblick des Zeltes einen schottischen Kehllaut von sich.
»Oh«, sagte er leise. »So ist das also.«
»Ach ja? Sei es, wie es will, wem gehört das Zelt?« Ich warf einen skeptischen Blick auf das Zelt, eine große Konstruktion aus gewachstem, braunen Segelleinen, das bleich in der Abenddämmerung schimmerte. Es gehörte offensichtlich einem ziemlich reichen Mann, doch mir war es nicht vertraut.
»Mr. Lillywhite aus Hillsborough«, sagte er, und seine Augenbrauen runzelten sich nachdenklich. Er tätschelte Rabbie Campbell den Kopf und reichte ihm einen Penny aus seinem Sporran. »Dank’ dir, Junge. Lauf jetzt heim zu deiner Mama; es ist Abendessenszeit.« Rabbie nahm die Münze in Empfang und verschwand wortlos, froh, seine Aufgabe erledigt zu haben.
»Ach, wirklich.« Ich betrachtete das Zelt voller Argwohn. Das erklärte einiges, dachte ich – wenn auch nicht alles. Mr. Lillywhite war ein Magistrat aus Hillsborough, obwohl ich nichts weiter über ihn wusste, außer, wie er aussah. Ich hatte ihn im Lauf des gathering ein- oder zweimal zu Gesicht bekommen, war ihm jedoch nie offiziell vorgestellt worden – er war ein großer Mann von ausgesprochen schlaffer Körperhaltung, den ein flaschengrüner Rock mit Silberknöpfen unverwechselbar machte.
Magistraten waren für die Ernennung der Sheriffs verantwortlich, was sowohl seine Verbindung mit dem »gemeinen, fetten Kerl« aus Marsalis Beschreibung als auch den Grund erklärte, warum man Vater Kenneth hier festhielt – allerdings die Frage offen ließ, ob es in erster Linie Mr. Lillywhites Wunsch oder der des Sheriffs gewesen war, den Priester aus dem Verkehr zu ziehen.
Jamie legte mir eine Hand auf den Arm und zog mich vom Weg in den Schutz einer kleinen Kiefer.
»Du kennst Mr. Lillywhite nicht, oder, Sassenach?«
»Nur vom Sehen. Was soll ich denn tun?«
Er lächelte mich an, einen Hauch von Schabernack in den Augen, trotz seiner Sorge um Vater Kenneth.
»Also spielst du mit?«
»Wenn du nicht vorschlägst, dass ich Mr. Lillywhite eins über den Schädel brate und Vater Kenneth mit Gewalt befreie, ja. So etwas fällt eher in deinen Arbeitsbereich als in meinen.«
Er lachte und betrachtete das Zelt mit einem Blick, der mir sehr sehnsüchtig vorkam.
»Nichts, was ich lieber täte«, sagte er und bestätigte damit meinen Eindruck. »Es wäre auch gar nicht schwierig«, fuhr er fort und warf einen abschätzenden Blick auf die braunen Leinenwände des Zeltes, die sich im Wind blähten. »Sieh dir an, wie groß es ist; es können sich außer dem Priester höchstens ein oder zwei andere Männer darin befinden. Ich könnte warten, bis es ganz dunkel ist und dann ein paar Jungs mitnehmen und –«
»Ja, aber was soll ich jetzt tun?«, unterbrach ich seinen Gedankengang, der mir jetzt doch arg kriminelle Züge anzunehmen schien.
»Ah.« Er brach seine Überlegungen – vorerst – ab und sah mich blinzelnd an, um meine Erscheinung zu beurteilen. Ich hatte mir die blutbefleckte Leinenschürze ausgezogen, die ich während der Sprechstunden trug, hatte mir das Haar ordentlich mit Nadeln hochgesteckt und bot ein einigermaßen respektables, wenn auch an den Säumen ein wenig schlammiges Bild.
»Du hast nicht zufällig etwas von deiner Arztausrüstung dabei?«, fragte er mit einem skeptischen Stirnrunzeln. »Eine Flasche Alkohol, ein Messerchen?«
»Eine Flasche Alkohol, natürlich. Nein, ich – oh, warte. Ja, schau her, reichen die?« Ich hatte die Tasche durchforstet, die ich mir um die Taille gebunden hatte, und dabei das Elfenbeinkistchen zum Vorschein gebracht, in dem ich meine Akupunkturnadeln mit den goldenen Spitzen aufbewahrte.
Jamie nickte, offensichtlich zufrieden gestellt, und zog die silberne Whiskyflasche aus seinem Sporran.
»Aye, sie reichen«, sagte er und reichte mir die Flasche. »Nimm das hier noch, damit es besser aussieht. Geh zum Zelt hinauf, Sassenach, und sag dem Mann, der den Priester bewacht, dass er krank ist.«
»Der Wächter?«
»Der Priester«, sagte er mit einem leicht ungeduldigen Blick. »Inzwischen weiß ja wohl jeder, dass du eine Heilerin bist und wie du aussiehst. Sag, dass Vater Kenneth eine Krankheit hat, die du behandelt hast, und dass er sofort eine Dosis von seiner Medizin haben muss, damit sein Zustand sich nicht verschlimmert und er ihnen stirbt. Ich gehe nicht davon aus, dass ihnen das lieb wäre – und sie werden keine Angst vor dir haben.«
»Das brauchen sie ja wohl auch nicht«, sagte ich ein wenig sarkastisch. »Dann soll ich dem Sheriff also die Nadeln nicht ins Herz bohren?«
Er grinste bei diesem Gedanken, schüttelte aber den Kopf.
»Nein, ich möchte nur, dass du herausfindest, warum sie den Priester verhaftet haben und was sie mit ihm vorhaben. Wenn ich selbst hingehe und Antworten verlange, könnte das ihren Argwohn erregen.«
Also hatte er die Idee eines späteren Terroranschlags auf Mr. Lillywhites Festung noch nicht ganz verworfen, falls die Antworten nicht zu seiner Zufriedenheit ausfielen. Ich warf einen Blick auf das Zelt, holte tief Luft und zog mein Schultertuch fest um mich.
»Nun gut«, sagte ich. »Und was hast du vor, während ich das tue?«
»Ich hole die Kinder«, sagte er, wünschte mir mit einem kurzen Händedruck Glück und war auf dem Pfad verschwunden.
Ich fragte mich immer noch, was er wohl mit dieser kryptischen Aussage meinte – welche »Kinder«? Und warum? –, als ich in Sichtweite des offenen Zelteingangs kam. Dann vergaß ich jegliche Spekulation, als darin ein Mann auftauchte, der Marsalis Beschreibung eines »gemeinen, fetten Kerls« so exakt entsprach, dass ich keinen Zweifel an seiner Identität hatte. Er war klein und hatte das Aussehen einer Kröte, einen zurückweichenden Haaransatz, einen Bauch, der die Knöpfe seiner Lederweste fast sprengte, und kleine Knopfaugen, die mich ansahen, als erwägten sie meine unmittelbare Eignung als Nahrungsmittel.
»Guten Tag, Ma’am«, sagte er. Er betrachtete mich ohne große Begeisterung, da er mich offensichtlich kaum zum Anbeißen fand, neigte aber in formellem Respekt den Kopf.
»Guten Tag«, erwiderte ich fröhlich und verbeugte mich knapp. Es konnte nie schaden, höflich zu sein, zumindest nicht für den Anfang. »Ihr seid bestimmt der Sheriff, nicht? Ich hatte leider noch nicht das Vergnügen, Euch offiziell vorgestellt zu werden. Ich bin Mrs. Fraser – Mrs. James Fraser aus Fraser’s Ridge.«
»David Anstruther, Sheriff von Orange County – stets zu Diensten, Ma’am«, sagte er mit einer erneuten Verbeugung, wenn auch ohne jedes Anzeichen echter Freude. Er legte auch keine Überraschung über den Klang von Jamies Namen an den Tag. Entweder kannte er ihn einfach nicht – sehr unwahrscheinlich –, oder er hatte schon mit einer solchen Gesandtschaft gerechnet.
Daher sah ich auch keinen Sinn darin, um den heißen Brei herumzureden.
»Ich habe gehört, dass Ihr Vater Donahue unter Eurem Dach beherbergt«, sagte ich freundlich. »Ich bin gekommen, um ihn zu besuchen; ich bin seine Ärztin.«
Ganz gleich, was er erwartet hatte, das war es jedenfalls nicht; sein Kinn senkte sich ein wenig und entblößte eine schwere Gebissanomalie, eine fortgeschrittene Zahnfleischentzündung und einen fehlenden Eckzahn. Bevor er den Mund wieder schließen konnte, trat ein hochgewachsener Herr in einem flaschengrünen Rock hinter ihm aus dem Zelt.
»Mrs. Fraser?«, sagte er, eine Augenbraue hochgezogen. Er verbeugte sich förmlich. »Ihr sagt, Ihr wünscht den verhafteten Kirchenmann zu sprechen?«
»Verhaftet?« Ich täuschte große Überraschung über diese Tatsache vor. »Ein Priester? Aber was kann er denn nur getan haben?«