Der Sheriff und der Magistrat wechselten einen Blick. Dann hustete der Magistrat.
»Vielleicht ist Euch nicht bekannt, Madame, dass es nur dem Klerus der offiziellen Kirche – also der Anglikanischen Kirche – gestattet ist, innerhalb der Kolonie North Carolina sein Amt auszuüben?«
Das war mir zwar nicht unbekannt, doch ich wusste auch, dass dieses Gesetz nur selten angewandt wurde, da es in der Kolonie sowieso nur relativ wenige Priester gab und sich niemand die Mühe machte, Notiz von den Wanderpredigern zu nehmen, die dann und wann auftauchten und von denen die meisten im wahrsten Sinne des Wortes unabhängig operierten.
»Guter Gott!«, sagte ich und bemühte mich nach Leibeskräften um einen Ausdruck der schockierten Überraschung. »Nein, ich hatte ja keine Ahnung. Du liebe Güte! Wie überaus seltsam!« Mr. Lillywhite kniff kurz die Augen zu, was ich als Bestätigung betrachtete, dass meine Darstellung gepflegten Erschreckens ihre Wirkung nicht verfehlte. Ich räusperte mich und brachte die Silberflasche und das Nadelkistchen zum Vorschein.
»Nun denn. Ich hoffe doch, dass jegliche Schwierigkeiten bald Klärung finden. Dennoch würde ich Vater Donahue sehr gern einen Augenblick sehen. Wie ich schon sagte, bin ich seine Ärztin. Er hat … Beschwerden …« Ich schlug den Deckel des Kistchens auf und stellte geziert meine Nadeln zur Schau, damit sie sich etwas hinreichend Drastisches vorstellten. »Sie bedürfen regelmäßiger Behandlung. Dürfte ich ihn kurz sehen, um ihm seine Medizin zu verabreichen? Ich … äh … sähe es nur ungern, wenn er durch einen Mangel an Sorgfalt meinerseits Schaden nähme.« Ich lächelte so charmant wie möglich.
Der Sheriff versenkte seinen Hals im Kragen seines Rockes, was ihm das Aussehen einer bösartigen Amphibie gab, doch auf Mr. Lillywhite schien mein Lächeln mehr Wirkung zu haben. Er zögerte und betrachtete mich genau.
»Nun, ich weiß nicht genau, ob …«, setzte er an, als hinter mir auf dem Weg platschende Schritte ertönten. Ich drehte mich um, weil ich halb damit rechnete, Jamie zu sehen, erblickte aber stattdessen Mr. Goodwin, meinen Patienten von neulich. Seine Wange war aufgrund meiner Zuwendungen immer noch geschwollen, doch seine Schlinge war noch intakt.
Er war nicht minder überrascht, mich zu sehen, begrüßte mich aber mit großer Herzlichkeit und einer Wolke alkoholischer Dämpfe. Offenbar hatte Mr. Goodwin meinen Rat bezüglich der Desinfektion sehr ernst genommen.
»Mrs. Fraser! Ihr seid doch wohl nicht hier, um meinen Freund Lillywhite zu behandeln, oder? Ich könnte mir aber vorstellen, dass Mr. Anstruther von einem ordentlichen Aderlass profitieren würde – weg mit den ganzen Gallensäften, was, David? Haha!« Er versetzte dem Sheriff einen kameradschaftlichen Hieb auf den Rücken; eine Geste, die Mr. Anstruther nicht mehr als eine kleine Grimasse entlockte, was mir einen Eindruck von Mr. Goodwins Bedeutung in der gesellschaftlichen Rangordnung von Orange County vermittelte.
»George, mein Lieber«, begrüßte Mr. Lillywhite ihn herzlich. »Dann bist du also mit dieser charmanten Dame bekannt?«
»Oh, das bin ich, das bin ich, Sir!« Mr. Goodwin sah mich strahlend an. »Oh, Mrs. Fraser hat mir heute Morgen einen großen Dienst erwiesen, einen wirklich großen! Hier, bitte!« Er schwang seinen verbundenen, geschienten Arm, der ihm zu meiner Freude gegenwärtig offenbar keinerlei Schmerzen verursachte, wenn dies wahrscheinlich auch eher an seiner selbst verabreichten Anästhesie als an meiner Handwerkskunst lag.
»Sie hat meinen Arm ganz geheilt und ihn doch nur hier und da berührt – und mir einen abgebrochenen Zahn so sauber gezogen, dass ich kaum etwas gemerkt habe. Ga!« Er steckte sich einen Finger in den Mundwinkel und zog seine Wange zurück, so dass ein blutgetränkter Wattebausch sichtbar wurde, der aus der Zahnlücke hervorlugte, sowie eine ordentliche Reihe schwarzer Stiche im Zahnfleisch.
»Ich bin wirklich höchst beeindruckt, Mrs. Fraser.« Lillywhite rümpfte die Nase, als ihm aus Goodwins Mund eine Mischung aus Knoblauch und Whisky entgegenwehte. Seine Miene war interessiert, und ich sah die Wölbung in seiner Wange, als er vorsichtig mit seiner Zunge einen Backenzahn abtastete.
»Aber was führt Euch hier herauf, Mrs. Fraser?« Mr. Goodwin lenkte den Strahl seiner Jovialität auf mich. »So spät am Tage – vielleicht erweist Ihr mir die Ehre, an meinem Feuer mit mir zu speisen?«
»Oh, danke, aber das kann ich wirklich nicht«, sagte ich und lächelte so charmant wie möglich. »Ich bin nur gekommen, um nach einem anderen Patienten zu sehen – das heißt –«
»Sie will den Priester sehen«, unterbrach Anstruther.
Goodwin kniff leicht verblüfft die Augen zu.
»Priester? Es ist ein Priester hier?«
»Ein Papist«, betonte Mr. Lillywhite, der dieses unreine Wort kaum über die Lippen brachte. »Mir ist zu Ohren gekommen, dass sich hier in der Menge ein katholischer Priester verborgen hielt, der vorhatte, heute Abend während der Festlichkeiten eine Messe abzuhalten. Ich habe ihn natürlich durch Mr. Anstruther verhaften lassen.«
»Vater Donahue ist ein Freund von mir«, warf ich so nachdrücklich wie möglich ein. »Und er hat sich nicht verborgen gehalten; er war ganz offen eingeladen, und zwar als Gast von Mrs. Cameron. Außerdem ist er mein Patient und bedarf der Behandlung. Ich bin hier, um dafür zu sorgen, dass er sie bekommt.«
»Ein Freund von Euch? Seid Ihr denn etwa katholisch, Mrs. Fraser?« Mr. Goodwin sah erschrocken aus; offensichtlich war er nicht auf die Idee gekommen, dass ihn eine papistische Zahnärztin behandelte, und er fuhr sich betreten mit der Hand an seine geschwollene Wange.
»Ja«, sagte ich in der Hoffnung, dass nicht schon die bloße Tatsache, dass man katholisch war, gegen Mr. Lillywhites Vorstellungen von Gesetzestreue verstieß.
Offensichtlich nicht. Mr. Goodwin versetzte Mr. Lillywhite einen kleinen Stoß.
»Ach, komm schon, Randall. Lass Mrs. Fraser den Mann besuchen, was kann es denn schaden? Und wenn er wirklich Jocasta Camerons Gast ist …«
Mr. Lillywhite spitzte ein paar Sekunden nachdenklich die Lippen, dann trat er beiseite und hielt den Zelteingang für mich auf.
»Es kann wohl nicht schaden, wenn Ihr nach Eurem … Freund seht«, sagte er langsam. »Tretet also ein, Madame.«
Die Sonne ging jetzt unter, und das Innere des Zeltes war dunkel, obwohl eine der Leinenwände immer noch vom Glühen der sinkenden Sonne erleuchtet war. Ich schloss einen Moment die Augen, um sie an die veränderten Lichtverhältnisse zu gewöhnen, dann sah ich mich blinzelnd um, um mich zu orientieren.
Das Zelt machte einen vollgestopften, aber relativ luxuriösen Eindruck. Es war mit einem Feldbett und anderen Möbelstücken ausgerüstet, und die Luft im Inneren roch nicht nur nach feuchtem Segeltuch und Wolle, sondern war auch mit den Aromen von Ceylontee, teurem Wein und Mandelplätzchen parfümiert.
Vater Donahue war als Silhouette vor dem leuchtenden Zeltleinen zu sehen. Er saß auf einem Hocker hinter einem kleinen Klapptisch, auf dem sich einige Bögen Papier, ein Tintenfass und ein Federkiel befanden. Seiner militant aufrechten Haltung nach zu urteilen, die auf ein bevorstehendes Märtyrertum hinzudeuten schien, hätten es genauso gut Daumenschrauben, Zangen und ein glühendes Schüreisen sein können.
Hinter mir ertönte das Klicken von Feuerstein und Zunder, dann glühte ein schwaches Licht auf. Es schwoll an, und ein schwarzer Junge – Mr. Lillywhites Bediensteter, vermutete ich – trat vor und stellte schweigend eine kleine Öllampe auf den Tisch.
Jetzt, da ich den Priester deutlich sehen konnte, wurde der Eindruck des Märtyrertums noch deutlicher. Er sah aus wie Sankt Stephan nach der ersten Steinsalve, denn er hatte eine Prellung am Kinn und ein erstklassiges, blaues Auge, das von der Braue bis zum Wangenknochen lila verfärbt und komplett zugeschwollen war.
Sein unverletztes Auge weitete sich bei meinem Anblick, und er fuhr mit einem überraschten Ausruf auf.