Wenigstens, dachte er, gingen diese hektischen Bemühungen in die richtige Richtung und schienen die für die Durchführung des Plans erforderlichen Ergebnisse zu erbringen. Die Tabellen und nüchternen Kurven erzählten eine sich langsam entspinnende Geschichte von einem modifizierten Floß, das auf einer gewagten Flugbahn um den Kern wirbelte; diese nüchternen Wissenschaftler und ihre Assistenten engagierten sich gemeinsam in dem ehrgeizigsten Projekt der Menschheit seit dem Bau des Floßes selbst.
Doch jetzt war Gord mit seinen Papierfetzen und Kugelschreibernotizen hereinmarschiert… und mit seinen vernichtenden Neuigkeiten. Hollerbach zwang sich dazu, sich wieder auf Gord und Jaen zu konzentrieren, die sich noch immer in den Haaren hatten — und dann sah er in Deckers Augen. Der Kommandant des Floßes stand emotionslos vor dem Tisch; sein narbiges Gesicht von grimmiger Konzentration umwölkt.
Hollerbach seufzte unhörbar. Man konnte sich darauf verlassen, daß Decker mit seinem Instinkt für das Wesentliche immer dann aufkreuzte, wenn es kritisch wurde. »Gehen wir das bitte noch einmal durch, Ingenieur«, sagte er zu Gord. »Und du, Jaen, versuche diesmal rational zu bleiben. Ja? Mit Beleidigungen ist niemandem geholfen.«
Jaens Augen blickten düster in ihrem rot angelaufenen Gesicht.
»Wissenschaftler, ich bin — war — der Chefingenieur des Gürtels«, begann Gord. »Ich weiß mehr als das, woran ich mich jetzt erinnern kann, über das Verhalten von Metall unter Extrembedingungen. Ich habe es wie Kunststoff fließen und spröde wie altes Holz werden sehen…«
»Niemand stellt deine Referenzen in Frage, Gord«, unterbrach ihn Hollerbach. Er konnte kaum seine Gereiztheit verbergen. »Komm auf den Punkt.«
Gord tippte auf seine Papiere. »Ich habe den Gezeitensog untersucht, dem das Floß bei seiner dichtesten Annäherung ausgesetzt sein wird. Und ich habe die Geschwindigkeit ermittelt, die es nach dem ›Schleuderschuß‹ erreicht haben muß, wenn es den Nebel verlassen will. Und ich sage dir, Hollerbach, ihr habt nicht mehr Chancen als ein Schneemann in der Hölle. Ich habe alles da; du kannst es überprüfen.«
Hollerbach winkte ab. »Werden wir. Werden wir. Erzähl nur weiter.«
»Zunächst die Gezeiten. Wissenschaftler, die Belastung wird das Floß in Stücke reißen, lange bevor es den Punkt der dichtesten Annäherung erreicht hat. Und die phantasievollen Konstruktionen, die deine Wunderkinder über dem Deck errichten wollen, werden einfach wie ein Haufen Zweige weggeblasen…«
»Gord, ich akzeptiere das nicht«, platzte es aus Jaen heraus. »Wenn wir das Floß umbauen, vielleicht einige Sektionen verstärken und sicherstellen, daß wir im Perihel die richtige Höhe haben…«
Gord erwiderte ihren Blick und sagte nichts.
»Überprüfe seine Zahlen später, Jaen«, sagte Hollerbach. »Mach weiter, Ingenieur.«
»Und was ist mit dem Luftwiderstand? Bei der erforderlichen Geschwindigkeit wird dort unten in der dichtesten Atmosphäre des ganzen Nebels alles, was sich vom Perihel wegbewegt, wie ein Meteor verglühen. Ihr werdet ein spektakuläres Feuerwerk abgeben, nicht mehr. Seht, es tut mir auch leid, daß es so desillusionierend ist, aber euer Plan kann einfach nicht funktionieren. Das sagen euch die Gesetze der Physik, nicht ich…«
Decker beugte sich vor. »Bergmann«, sagte er leise, »wenn das, was du gesagt hast, stimmt, dann sind wir zu einem langsamen Tod an diesem stinkenden Ort verurteilt. Nun, vielleicht habe ich keine gute Menschenkenntnis, aber dich scheint diese Aussicht nicht übermäßig zu beunruhigen. Hättest du einen anderen Vorschlag?«
Langsam erschien ein Lächeln auf Gords Gesicht. »Ja, ganz zufällig…«
Decker legte seine schwere Hand auf den Tisch. »Keine Wortspiele mehr«, befahl er ruhig. »Bergmann, mach weiter.«
Gords Grinsen verflüchtigte sich und ein Anflug von Angst erschien auf seinem Gesicht, der Hollerbach unangenehm daran erinnerte, wieviel dieser unschuldige kleine Mann schon hatte erdulden müssen. »Niemand will dir etwas tun«, beruhigte er ihn. »Zeig uns nur dein Konzept.«
Mit einem entspannteren Gesichtsausdruck stand Gord auf und führte sie hinaus vor die Brücke. Bald standen die vier — Gord, Hollerbach, Decker und Jaen — neben der düster glühenden Masse der Brücke.
Das einfallende Sternenlicht ließ eine Flut von Schweißtropfen auf Hollerbachs kahler Kopfhaut hervortreten. Gord strich mit einer Hand über die Wandung der Brücke. »Wann habt ihr dieses Material zum letztenmal berührt? Für euch ist es wohl selbstverständlich, jeden Tag daran vorbeizugehen; doch wenn man es zum erstenmal sieht, ist es wie eine Offenbarung.«
Hollerbach legte eine Hand an die silberne Oberfläche und ließ sie über die glatte Struktur gleiten… »Es gibt keine Reibung. Ja, natürlich.«
»Ihr habt mir gesagt, daß es früher eine selbständige Einheit war, bevor es in das Deck des Floßes integriert wurde«, fuhr Gord fort. »Ich stimme euch zu. Und außerdem glaube ich, daß dieses kleine Schiff dazu konstruiert wurde, durch die Luft zu fliegen.«
»Ohne Reibung.« Hollerbach atmete schwer und rieb noch immer seine Handfläche an dem fremdartigen Metall. »Natürlich. Wie konnten wir alle nur so dumm sein? Siehst du«, wandte er sich an Decker, »diese Oberfläche ist so glatt, daß die Luft einfach darüber hinweggleitet, gleichgültig, welche Geschwindigkeit anliegt. Und sie wird sich auch nicht wie normales Metall aufheizen…«
»Und ohne Zweifel würde diese Konstruktion auch stabil genug sein, den Gezeitenwechsel in der Kernzone auszuhalten; zumindest weitaus besser als unser zusammengeschustertes Floß. Decker, wir müssen Gords Berechnungen wohl noch einmal durchgehen, aber meines Erachtens sind sie richtig. Ist dir klar, was das bedeutet?« Ein Gefühl des Wunders meldete sich in Hollerbachs Gehirn. »Wir müssen keine eiserne Glocke bauen, um unsere Atmosphäre am Entweichen zu hindern. Wir müssen nur das Brückenschott schließen. Wir werden das Schiff fliegen, wie es unsere Ahnen getan haben… Wir können sogar unsere Instrumente benutzen, um den Kern zu untersuchen, während wir daran vorbeifliegen. Decker, eine Tür hat sich geschlossen; aber dafür ist eine andere aufgestoßen worden. Verstehst du?«
Deckers Gesicht war eine dunkle Maske. »Oh, ich verstehe, Hollerbach. Aber eine Sache hast du doch übersehen.«
»Welche?«
»Das Floß ist eine halbe Meile breit. Diese Brücke ist nur einhundert Meter lang.«
Hollerbach runzelte die Stirn, und dann begann ihm die Tragweite von Deckers Worten bewußt zu werden.
»Sucht Rees«, sagte Decker knapp. »Ich sehe euch beide in einer Viertelstunde in eurem Büro.« Mit einem knappen Nicken drehte er sich um und ging davon.
Rees spürte, daß die Atmosphäre in Hollerbachs Büro geladen war.
»Mach die Tür zu!« grollte Decker.
Rees setzte sich vor Hollerbachs Schreibtisch. Hollerbach selbst saß dahinter und zupfte mit langen Fingern an der pergamentartigen Haut seiner Hände. Decker sog die Luft durch seine geblähten Nüstern ein und stiefelte mit gesenktem Blick durch das kleine Büro.
Rees runzelte die Stirn. »Warum diese Stimmung wie auf einer Beerdigung? Was ist passiert?«
Hollerbach beugte sich vor. »Es gibt… Komplikationen.«
Dann referierte er kurz Gords Bedenken. »Wir müssen natürlich seine Zahlen überprüfen. Aber…«
»Aber er hat recht«, erkannte Rees. »Du weißt, daß es so ist, stimmt’s?«