Hollerbach seufzte, und die Luft strömte kratzend durch seine Kehle. »Natürlich hat er recht. Und wenn wir anderen uns nicht in großartige Spekulationen über Gravitationsschleudern und eine Kuppel mit einem Durchmesser von einer Meile versponnen hätten, würden wir uns dieselben Fragen gestellt haben. Und zu den gleichen Schlußfolgerungen gekommen sein.«
Rees nickte. »Aber wenn wir die Brücke nehmen, werden wir mit unvorhergesehenen Problemen konfrontiert. Eigentlich hatten wir angenommen, jeden retten zu können.« Sein Blick zuckte zu Decker. »Jetzt müssen wir selektieren.«
Deckers Gesicht war dunkel vor Zorn. »Und deswegen kommst du zu mir.«
Rees rieb sich die Nasenwurzel. »Decker, vorausgesetzt, wir bewerkstelligen einen sauberen Start, können die Zurückbleibenden noch Hunderte oder gar Tausende von Schichten überleben…«
»Ich hoffe, daß diejenigen, die keinen Platz in deinem glänzenden Schiff bekommen, es auch mit dieser philosophischen Gelassenheit sehen«, schnaubte Decker. »Wissenschaftler. Sag mir eines: Wird dieses Abenteuer glücken? Können die Passagiere der Brücke wirklich einen Orbit um den Kern überleben und dann durch das All zu einem anderen Nebel gelangen? Wir betrachten jetzt nämlich eine Version, die sich grundlegend von Rees’ ursprünglichem Plan unterscheidet.«
Rees nickte zögernd. »Wir werden Versorgungsmaschinen brauchen, soviel Preßluft wie möglich in den begrenzten Räumlichkeiten der Brücke unterbringen, vielleicht noch Luftaufbereitungsanlagen…«
»Verschone mich mit den Details«, versetzte Decker ungeduldig. »Dieses absurde Projekt wird Knochenarbeit, Verletzte und Tote zur Folge haben. Und ohne Zweifel wird die Brücke viele der fähigsten Leute der Menschheit abziehen und damit das Schicksal der Zurückbleibenden noch verschlimmern.
Wenn diese Mission nicht mit einer vertretbaren Aussicht auf Erfolg durchgeführt werden kann, werde ich sie nicht unterstützen. So einfach ist das. Ich habe die Verantwortung für die Menschen hier und werde nicht das Leben der meisten verkürzen, nur um ein paar Helden eine Vergnügungsfahrt zu ermöglichen.«
»Weißt du«, meinte Hollerbach nachdenklich, »ich bezweifele, daß du dir zum Zeitpunkt deiner… äh… Machtübernahme — auf diesem Floß vorstellen konntest, einmal eine solche Entscheidung treffen zu müssen.«
»Willst du mich verarschen, Wissenschaftler?«
Hollerbach schloß die Augen. »Nein.«
»Laßt es uns noch einmal durchdenken«, schlug Rees vor. »Hollerbach, wir müssen einen genetischen Pool transportieren, der groß genug ist, die Rasse zu erhalten. Wie viele Leute?«
Hollerbach zuckte die Achseln. »Vier- oder fünfhundert?«
»Können wir so viele unterbringen?«
Hollerbach antwortete nicht sofort. »Ja«, meinte er dann langsam. »Aber es muß sorgfältig vorbereitet werden. Präzise Planung und strikte Rationierung… es wird alles andere als eine Vergnügungsreise werden.«
»Genetischer Pool?« grummelte Decker. »Eure fünfhundert werden wie Neugeborene auf der fremden Welt eintreffen, ohne Ressourcen. Bevor sie sich vermehren, werden sie zunächst sicherstellen müssen, nicht in den Kern des neuen Nebels zu stürzen.«
Rees nickte. »Ja. Aber das mußte die Besatzung des ursprünglichen Schiffes auch. In materieller Hinsicht werden unsere Auswanderer schlechter dran sein… aber zumindest wissen sie, was sie erwartet.«
Decker stieß die Faust in die Höhe. »Du willst damit also sagen, daß die Mission ein Erfolg werden und eine neue Kolonie überleben könnte? Hollerbach, stimmst du dem zu?«
»Ja«, bestätigte Hollerbach ruhig. »Wir müssen zwar noch die Details klären. Aber — ja. Ich kann es dir garantieren.«
Decker schloß die Augen und ließ die Schultern hängen. »Gut. Wir müssen unser Projekt vorantreiben. Und versucht diesmal, die Probleme rechtzeitig zu erkennen.«
Rees spürte eine gewaltige Erleichterung. Wenn sich Decker anders entschieden hätte — wenn das große Ziel verschwunden wäre — was hätte er, Rees, dann noch mit seinem Leben anfangen sollen?
Ihn schauderte. Es war unvorstellbar.
»Jetzt müssen wir uns mit anderen Dingen befassen«, ordnete Hollerbach an. Er hielt seine knochige Hand hoch und zählte die Punkte an den Fingern ab. »Zunächst müssen wir unsere Planungen bezüglich der Mission selbst fortsetzen — die Besatzung, Aufteilung und Führung der Brücke. Für diejenigen, die hier bleiben, müssen wir eine Möglichkeit finden, das Floß zu manövrieren.«
Decker schaute überrascht.
»Decker, dieser Stern dort oben wird nicht verschwinden. Unter normalen Umständen hätten wir unsere Position zu ihm schon längst verändert. Jetzt, wo es das Schicksal des Floßes ist, in diesem Nebel zu bleiben, müssen wir es zumindest von hier wegbewegen. Und schließlich…« Hollerbachs Stimme versagte.
»Und schließlich«, ergänzte Decker bitter, müssen wir eine Auswahl treffen zwischen denen, die auf der Brücke mitfliegen. Und denen, die zurückbleiben.
»Vielleicht wäre eine Art Abstimmung fair…«, schlug Rees vor.
Decker schüttelte den Kopf. »Nein. Das klappt nur mit den richtigen Leuten.«
»Du hast natürlich recht«, nickte Hollerbach.
Rees runzelte die Stirn. »Na gut. Aber — wer selektiert die ›richtige‹ Besatzung?«
Decker starrte ihn an, und sein narbiges Gesicht verzerrte sich zu einer Maske des Schmerzes. »Wer wohl?«
Rees schaukelte seine Feldflasche hin und her. »Das ist es also«, sagte er zu Pallis. »Jetzt steht Decker vor der Entscheidung seines Lebens.«
Pallis stand vor seinem Käfig aus jungen Bäumen und piekste gegen die Balken. Einige von den Bäumen waren fast schon alt genug, um selbständig zu werden, dachte er geistesabwesend. »Macht bedeutet offensichtlich auch Verantwortung. Ich weiß nicht, ob Decker das bewußt war, als er sich an die Spitze dieses Narrenkomitees gestellt hatte. Aber spätestens jetzt wird er es erkannt haben… Decker wird schon die richtigen Entscheidungen treffen; wir können nur hoffen, daß der Rest von uns es auch tut.«
»Was meinst du damit, der Rest von uns?«
Pallis hob den Käfig von seiner Stellfläche — er war zwar klobig, aber leicht — und reichte ihn Rees. Der junge Wissenschaftler setzte seine Feldflasche ab und ergriff unsicher den Käfig, wobei er auf die sich bewegenden jungen Bäume blickte. »Das sollte mit auf die Reise gehen«, sagte Pallis. »Vielleicht solltet ihr noch mehr mitnehmen. Setzt sie im neuen Nebel aus und laßt sie sich vermehren — und in einigen hundert Jahren werden ganze neue Wälder entstanden sein. Wenn es an dem neuen Ort nicht überhaupt schon welche gibt…«
»Warum gibst du mir das? Ich verstehe nicht, Baum-Pilot.«
»Aber ich«, meldete sich Sheen.
Pallis wirbelte herum. Rees schnappte nach Luft und jonglierte in seinem Schock mit dem Käfig. Sie stand im Eingangsbereich, und in dem diffusen Sternenlicht traten die Härchen auf ihren bloßen Armen hervor.
Von einem intensiven Schamgefühl erfaßt, errötete Pallis; als er sie dort stehen sah, in seiner eigenen Unterkunft, kam er sich vor wie ein dummer Schuljunge. »Ich habe nicht mit dir gerechnet«, sagte er unsicher.
»Das sehe ich«, erwiderte sie lachend. »Bittest du mich nicht hinein und bietest mir etwas zu trinken an?«
»Natürlich…«
Sheen machte es sich auf dem Boden bequem und kreuzte die Beine. Sie nickte Rees zu.
Mit sich verdunkelnder Gesichtsfarbe sah Rees abwechselnd Pallis und Sheen an. Pallis war überrascht. Hegte Rees irgendwelche Gefühle für seine frühere Vorgesetzte… sogar trotz der Behandlung nach seiner Rückkehr auf den Gürtel? Rees stand auf und fummelte verlegen am Käfig herum. »Ich werde mich später wieder mit dir unterhalten, Pallis…«
»Du brauchst jetzt nicht zu gehen«, sagte Pallis schnell.
Sheens Augen funkelten amüsiert.