Pallis starrte düster auf die Besatzungen der sterbenden Bäume. »Geht schleunigst über Bord! Die Bäume sind erledigt. Klettert an den Tauen in Sicherheit!«
Ängstlich und verwirrt starrten sie zu ihm hoch. Pallis brüllte weiter, bis er sah, daß sie sich an wellenschlagenden Trossen auf das Deck abseilten.
Die Bäume befanden sich nun in tödlicher Umklammerung, ihre Winkelmomente interferierten, und ihre Stämme rotierten in einem Wirbel aus Laub und abgebrochenen Ästen. Wandgroße Sektionen aus Holz splitterten weg, und die Luft war angefüllt vom Knirschen nachgebenden Holzes. Pallis sah die Feuerkessel durch die Luft fliegen, und er betete, daß die Besatzungen so umsichtig gewesen waren, die Feuer vorher zu löschen.
Bald war nicht viel mehr übrig als die Stämme, die durch ein Gewirr aus Ästen miteinander verzahnt waren; die Ankertaue der Bäume hatten sich losgerissen wie ausgekugelte Arme, und die freigelegten Stämme bewegten sich halb taumelnd in pirouettenartiger, merkwürdiger Eleganz.
Schließlich krachten die Stämme auf das Deck und explodierten in einer Wolke aus Bruchstücken. Für einige Minuten gingen Splitter nieder, wie ein Hagel aus Krummdolchen; dann krabbelten die ersten Leute an den Unfallort und gingen dabei über Baumtrossen, die wie die Extremitäten einer Leiche zwischen den Trümmern lagen.
Schweigend kam Pallis zu Jame herüber. »Wir können hier nichts tun; laß uns weitermachen.« Das Plattenfahrzeug startete und nahm seinen Patrouillenflug wieder auf.
Für mehrere Stunden strich Pallis’ Platte über den fliegenden Wald. Schließlich knurrte Jame zornig, dessen Gesicht von dem aufsteigenden Rauch geschwärzt war; und Pallis’ Hals war vor lauter Schreien heiser. Dann legte Nead seinen Sextanten in den Schoß und lehnte sich lächelnd zurück. »Das war’s«, sagte er. »Hat das Roß sich jetzt aus der Flugbahn des verdammten Sterns herausbewegt?«
»Nein, noch nicht. Aber auch ohne weitere Impulse durch die Bäume hat es jetzt genug Bewegungsenergie. In ein paar Stunden wird es an einer sicheren Stelle zum Stillstand kommen, weit genug vom Pfad des Sterns.«
Pallis legte sich auf das die Platte überziehende Netz und nahm einen Schluck aus der Feldflasche. »Wir haben es also geschafft.«
»Es ist noch nicht vorbei für das Floß«, widersprach Nead verträumt. »Wenn der Stern die Ebene des Floßes passiert, werden sich einige interessante Gezeiteneffekte ergeben.«
Pallis zuckte die Achseln. »Nichts, was das Floß nicht auch schon früher ausgehalten hätte.«
»Es muß ein phantastischer Anblick sein, Pallis.«
»Ja, muß es«, überlegte der Pilot. Er erinnerte sich daran, wie die Schatten der Taue über dem Deck immer länger geworden waren; schließlich würde der Umfang der Sternenscheibe den Horizont berühren und das Deck in sein grelles Licht tauchen. Und wenn die Hauptscheibe unter den Rand des Floßes gesunken war, würde sie noch nachglühen; ein Phänomen, das die Wissenschaftler als Korona bezeichneten…
Jame blinzelte in den Himmel. »Wie oft mag das wohl passieren? Wie oft steht das Floß in der Flugbahn eines abstürzenden Sterns?«
Pallis zuckte die Achseln. »Nicht oft. In jeder Generation ein oder zweimal. Jedenfalls oft genug, daß wir gelernt haben, damit klarzukommen.«
»Aber ihr braucht die Wissenschaftler — wie den hier…« — Jame zeigte mit dem Daumen auf Nead —, »um einen Plan zu entwickeln.«
»Ja, natürlich«, meldete sich Nead belustigt. »Einen feuchten Finger in den Wind zu halten, reicht in einem solchen Fall nicht aus.«
»Aber viele Wissenschaftler werden sich doch verpissen, auf diesem Brückending.«
»Das stimmt.«
»Was wird also passieren, wenn der nächste Stern herunterkommt? Wie wird das Floß dann bewegt?«
Nead nahm unbekümmert einen Schluck. »Unsere Beobachtungen zeigen, daß der nächste Stern — weit dort oben…« — er deutete in die Höhe — »erst in vielen tausend Schichten zu einer Gefahr für das Floß werden wird.«
Pallis runzelte die Stirn. »Das ist keine Antwort auf James Frage.«
»Doch, ist es.« Auf Neads ausdruckslosem jungen Gesicht erschien ein Ausdruck des Befremdens. »Wir gehen ohnehin davon aus, daß dann im Nebel kein Leben mehr möglich sein wird. Es ist also ein eher akademisches Problem, richtig?«
Pallis und Jame tauschten Blicke; dann wandte sich Pallis dem rotierenden Wald unter seinem Fahrzeug zu und versuchte, sich in eine meditative Betrachtung dessen unerschütterlicher Ruhe zu versetzen.
In seiner letzten Ruheperiode vor der Abreise der Brücke hatte Rees kaum geschlafen.
Irgendwo schlug eine Glocke.
Es war an der Zeit. Rees erhob sich von seiner Palette, wusch sich hastig und kam aus seiner provisorischen Unterkunft. Alles, was er fühlte, war die große Erleichterung, daß es endlich soweit war.
Die Brücke in ihrem Gerüstkäfig war das Zentrum hektischer Aktivität. Es lag im Herzen eines abgegrenzten, zweihundert Meter langen Bereichs, der sich in eine Miniaturstadt verwandelt hatte: die ehemaligen Offiziersunterkünfte waren requiriert worden, um die hoffnungsfrohen Auswanderer zeitweilig unterzubringen. Jetzt liefen die Leute unsicher in kleinen Grüppchen auf die Brücke zu. Rees erkannte Repräsentanten aus allen Kulturen des Nebels: vom Floß selbst, aus dem Gürtel und sogar einige Boneys. Jeder Exilant trug die paar Kilo persönlicher Dinge, die er mitnehmen durfte. Eine Schlange bildete sich vor der offenen Schleuse der Brücke, dahinter eine Menschenkette, die noch etwas Proviant, Bücher und Meßgeräte in das Innere brachte. Eine Atmosphäre der Zielstrebigkeit lag über der Szene, und Rees begann langsam zu glauben, daß diese Sache wirklich stattfinden würde…
Was immer die Zukunft auch bringen mochte; er konnte nur froh sein, daß diese Wartephase mit all ihren Zerwürfnissen und der Verbitterung vorüber war. Nach der Positionsänderung des Floßes war die Gesellschaft schnell auseinandergefallen. Es war ein Wettlauf geworden, die Vorbereitungen abzuschließen, bevor endgültig alles aus dem Lot ging; und während die Zeit verging und noch mehr Verzögerungen und Probleme aufgetreten waren —, hatte Rees gespürt, wie sich ein Druck aufbaute, den er schließlich kaum mehr auszuhalten schien.
Das Ausmaß an persönlichen Animositäten, mit dem er konfrontiert wurde, hatte ihn erstaunt. Er hätte den Leuten gerne erklärt, daß es nicht seine Schuld war, daß der Nebel am Vergehen war; daß nicht er die Gesetze der Physik aufgestellt hatte, die nun die Anzahl der Passagiere begrenzten.
…Und er war es nicht — allein — gewesen, der die Liste zusammengestellt hatte.
Dieser Vorgang war eine Qual gewesen. Die Idee einer Abstimmung war schnell wieder verworfen worden; die Zusammensetzung dieser Kolonie konnte nicht dem Zufall überlassen werden. Aber wie sollte man bei Menschen — Familien, ganzen Generationen — zwischen Leben und Tod entscheiden? Sie hatten es auf die wissenschaftliche Art versucht und nach Kriterien wie körperlicher Leistungsfähigkeit, Intelligenz, Anpassungsfähigkeit und Fortpflanzungsalter selektiert…
Und Rees, der den ganzen Vorgang empörend und abstoßend fand, tauchte auf den meisten Kandidatenlisten auf.
Aber er war trotzdem bei seiner ursprünglichen Linie geblieben; er betete nicht nur für die Sicherung seines eigenen Überlebens, sondern auch dafür, seine Arbeit so gut wie möglich zu tun. Der Selektionsprozeß hatte ein schmutziges und schäbiges Gefühl in ihm hinterlassen, und er begann sogar an seiner eigenen Motivation zu zweifeln.
Schließlich war eine endgültige Liste erstellt worden, die Decker mit rüder Willkür aus einem Dutzend anderer synthetisiert hatte. Rees war aufgeführt. Roch nicht. Und so, überlegte Rees mit einem neuen Anfall von Selbsthaß, hatte er die schlimmsten Erwartungen von Roch und seinesgleichen aufs Penibelste erfüllt.