Mit letzter Kraft legte Rees eine Hand auf die Schaltfläche der Schleusenverriegelung und ließ das Schott zuknallen.
16
Während der Flug durch das All weiterging, zog es Rees immer wieder zu dem kleinen Fensterausschnitt in der Wandung der Brücke.
Er drückte das Gesicht gegen die warme Hülle. Er befand sich hier im Mittelabschnitt der Brücke: zu seiner Linken der Nebel, die Heimat, die sie aufgegeben hatten, als rote Barriere, die den Himmel in zwei Hälften teilte; zur Rechten ihr Zielnebel als bläulicher Fleck, den er noch immer mit einer Hand ausblenden konnte.
Nachdem das Schiff vom Kern weggeschleudert worden war, hatte sich das Navigationsteam stundenlang mit seinen diversen Sextanten, Diagrammen und geschliffenen Knochenstücken beschäftigt, um dann schließlich zu melden, daß sich das Schiff auf Kurs befand. Diese Nachricht hatte die Stimmung unter den Passagieren deutlich gehoben. Trotz der Toten, Verletzten und des Verlustes der Versorgungsmaschine schien ihre Mission ein Erfolg zu werden, nachdem die größte Bewährungsprobe jetzt hinter ihnen lag. Rees hatte sich von dieser Euphorie anstecken lassen.
Doch dann hatte die Brücke das vertraute warme Licht des Nebels hinter sich gelassen.
Die Transparenz der Schiffswand war zum größten Teil aufgehoben worden, um die deprimierende Schwärze des internebularen Leerraums auszublenden. In Kunstlicht getaucht, war die wiedererrichtete Zeltstadt erneut ein Hort heimatlicher Wärme und altbekannter Gerüche geworden, und die meisten Passagiere waren froh darüber gewesen, zur Ruhe kommen zu können und das Nichts hinter der Wandung des alten Schiffs vergessen zu können.
Dennoch wurden die Menschen zunehmend stiller — nachdenklicher, ja sogar depressiv.
Und dann begann sich noch der Verlust der einen ihrer zwei Versorgungsmaschinen auszuwirken; die Nahrungsmittel mußten rationiert werden; die Leute litten Hunger.
Das Weltall draußen war von einem satten Dunkelblau, das nur durch das diffuse Glühen weit entfernter Nebel unterbrochen wurde. Die Wissenschaftler hatten über ihren antiken Instrumenten gebrütet und Rees versichert, daß der interstellare Leerraum alles andere als atmosphärelos war; nur war die Dichte der Gase viel zu niedrig, als daß Menschen darin hätten existieren können. »Es ist«, hatte Jaen ihm voller Elan erklärt, »als ob die Nebel Flecken mit einer hohen Dichte innerhalb einer weit größeren Wolke seien, die ihrerseits vielleicht eine eigene Struktur und einen eigenen Kern hat. Vielleicht fallen all die Nebel wie Sterne in diesen großen Kern.«
»Warum hier schon aufhören?« hatte Rees grinsend erwidert. »Diese Struktur könnte rekursiv sein. Vielleicht ist dieser große Nebel selbst auch nur ein Satellit eines anderen, riesigen Kerns, der seinerseits um einen anderen kreist, und so weiter, ohne Ende.«
Jaens Augen funkelten. »Ich frage mich, wie die Bewohner solch großer Kerne wohl aussehen, wie sich die Gravitationschemie unter derartigen Bedingungen auswirken könnte…«
Rees zuckte die Achseln. »Vielleicht schicken wir eines Tages ein Schiff los, um es herauszufinden. Um den Kern der Kerne zu finden… aber man könnte diese Fragen auch mit weniger Aufwand beantworten.«
»Wie zum Beispiel?«
»Nun, falls unser neuer Nebel wirklich auf einen größeren Kern zustürzt, müßte man diesen Vorgang meßtechnisch nachweisen können. Gezeiteneffekte, zum Beispiel — wir könnten Hypothesen zu Masse und Aussehen des großen Kerns aufstellen, ohne ihn überhaupt selbst zu sehen.«
»Und mit diesem Wissen könnten wir ganze Bündel von Theorien über die Struktur dieses Universums verifizieren…«
Nun lächelte Rees; ein Teil seiner alten intellektuellen Zuversicht war wieder da und richtete ihn auf.
Aber wenn sie sich nicht verpflegen konnten, waren all diese Träume nur Schäume.
Durch das Schleudermanöver am Kern vorbei hatte das Schiff einen enormen Geschwindigkeitszuwachs erfahren und drang innerhalb von Stunden in den galaktischen Leerraum ein. Seitdem waren fünf Schichten vergangen… doch sie hatten noch weitere zwanzig vor sich. Würde die fragile soziale Struktur des Raumers so lange halten?
Eine knochige Hand legte sich auf seine Schulter. Hollerbach stieß sein hageres Gesicht vor und schaute aus dem Fenster. »Wundervoll«, murmelte er.
Rees sagte nichts.
Hollerbach ließ die Hand auf Rees’ Schulter liegen. »Ich weiß, wie du dich fühlst.«
»Das Schlimmste ist«, meinte Rees, »daß die Passagiere noch immer mich für unsere Schwierigkeiten verantwortlich machen. Mütter halten mir bei meinen Rundgängen anklagend ihre hungrigen Kinder entgegen.«
Hollerbach lachte. »Rees, das darf dich nicht kümmern«, sagte er trocken. »Du hast nach wie vor den tapferen Idealismus deiner Jugend — den Idealismus, den du ins Erwachsenenalter mitgenommen hast und der dich dazu veranlaßt hatte, durch das Zusammengehen mit den Wissenschaftlern während der Revolution dein eigenes Leben zu riskieren. Doch jetzt bist du zu einem Mann geworden, der erkannt hat, daß die oberste Priorität das Überleben der Rasse ist… und du hast gelernt, diese Disziplin auf andere zu übertragen. Das hast du mir mit deinem Sieg über Gover bewiesen.«
»Mit seiner Ermordung, meinst du wohl.«
»Wenn du die Handlungen, zu denen du gezwungen warst, nicht bedauern würdest, wäre mein Respekt für dich auch weit geringer.« Der alte Mann drückte Rees’ Schulter.
»Wenn ich nur sicher sein könnte, daß ich das Richtige getan habe«, haderte Rees. »Vielleicht schicke ich diese Leute mit falschen Versprechungen in den Tod.«
»Nun, die Dinge stehen gut. Die Navigatoren haben mir versichert, daß unser Manöver am Kern erfolgreich war, und daß wir uns auf dem richtigen Kurs auf unsere neue Heimat befinden… Und wenn du noch ein günstiges Vorzeichen suchst…« Hollerbach deutete nach oben. »Schau mal da rauf.«
Rees sah in die angegebene Richtung. Die wandernde Walschule zog sich als eine Schicht schlanker, geisterhafter Formen von links nach rechts über den Himmel. An der Peripherie dieses Stroms erkannte er Scheibenwesen, Himmelswölfe mit fest geschlossenen Mäulern und andere, noch exotischere Kreaturen, die alle stetig ihrer neuen Heimat zustrebten.
Im Nebel mußte es noch mehr von diesen riesigen Schulen geben: nacheinander verließen sie die sterbende Gaswolke, ihre verstreuten Silhouetten hoben sich gegen das düstere Glühen des Nebels ab. Bald, überlegte Rees, würde jedes Leben aus dem Nebel verschwunden sein… außer ein paar verankerten Bäumen und den stationären Überresten menschlicher Zivilisation.
Da lief eine leichte Bewegung durch den Strom der Wale. Drei der großen Tiere drifteten mit schlagenden Flossen aufeinander zu, bis sie sich in einem großräumigen, elegischen Tanz überund umeinander herum bewegten. Schließlich rückten sie so dicht auf, daß ihre Flossen sich verfingen und ihre Körper sich berührten; es schien, als ob sie zu einem einzigen Wesen verschmolzen wären. Der Rest der Schule trieb respektvoll um die Triade.
»Was machen sie denn da?«
Hollerbach lächelte. »Ich kann es natürlich nur vermuten — und in meinem Alter überwiegend aufgrund meiner Erinnerung —, aber ich glaube, daß sie sich paaren.«
Rees holte tief Luft.
»Warum auch nicht? Die Bedingungen könnten kaum günstiger sein, umgeben von ihren Kameraden und so weit weg vom Streß und den Gefahren des Lebens im Nebel. Sogar die Himmelswölfe sind kaum in der Lage zu einem Angriff. Weißt du, es sollte mich nicht wundern, wenn wir — nach diesen langen Stunden in Abgeschiedenheit und Langeweile — auch bei uns eine Bevölkerungsexplosion erleben würden.«
»Das ist genau das, was wir brauchen«, erklärte Rees lachend.
»Ja, das brauchen wir wirklich«, murmelte Hollerbach ernst. »Wie dem auch sei; was ich damit sagen will, mein Freund, ist, daß wir es diesen Walen vielleicht nachmachen sollten. Selbstzweifel sind menschlich… aber die Hauptsache ist, das Überleben zu sichern, so gut wie möglich. Und genau das hast du geleistet.«