Um einen Anfang zu machen, probierte ich es mit den zehn Sefiroth: Kether, Chochmah, Binah, Chessed, Geburah, Tifereth, Nezach, Hod, Jessod, Malchuth, und zur Sicherheit nahm ich auch noch die Schechinah hinzu... Nichts, natürlich, es war die erste Idee, die jedem x-beliebigen hätte einfallen können.
Immerhin, das Passwort musste etwas Naheliegendes sein, etwas, das einem ganz zwangsläufig einfällt, denn wer über einem Text arbeitet, und das so obsessiv, wie Belbo es in den letzten Tagen getan haben musste, kann sich dem Sprachuniversum, in dem er lebt, nicht entziehen. Es wäre unmenschlich, etwa zu meinen, Belbo hätte, während er über dem Großen Plan brütete, ein Wort wie, was weiß ich, Lincoln oder Mombasa gewählt. Es musste etwas sein, das irgendwie mit dem Großen Plan zusammenhing. Aber was?
Ich versuchte mich in die mentalen Prozesse Belbos hineinzuversetzen. Er hatte beim Schreiben nervös geraucht und getrunken und sich umgeschaut. Ich ging in die Küche, goss mir den letzten Tropfen Whisky in das einzige saubere Glas, das ich fand, setzte mich wieder vor den Computer, lehnte mich zurück, legte die Füße auf den Tisch, trank mit kleinen Schlückchen (war das nicht die Art, wie Sam Spade es machte — oder war's eher Marlowe gewesen?) und ließ den Blick durch das Zimmer wandern. Die Bücher waren zu weit entfernt, als dass ich die Titel auf den Rücken hätte lesen können.
Ich trank den letzten Schluck Whisky, schloss die Augen, machte sie wieder auf. Vor mir an der Wand hing der barocke Stich. Es war eine typische RosenkreuzerAllegorie der Epoche, vollgepackt mit verschlüsselten Botschaften, auf der Suche nach den Mitgliedern jener Brüderschaft. Offensichtlich stellte sie den Tempel der Rosenkreuzer dar, in Form eines Turmbaus mit einer Kuppel, gemäß dem ikonographischen Modell der Renaissance, dem christlich jüdischen, in welchem der Tempel zu Jerusalem nach dem Muster der Omar-Moschee rekonstruiert wurde.
Die Landschaft rings um den Turm war inkongruent und auf inkongruente Weise bevölkert, wie bei jenen Rebus-Bildern, auf denen man in der Mitte einen Palast sieht, im Vordergrund eine Kröte, daneben ein mit Säcken beladenes Maultier sowie einen König, der Geschenke von einem Pagen empfängt. Hier stieg links unten aus einem Brunnen ein Edelmann, an einen Flaschenzug geklammert, der über absurde Hebewinden, die durch ein rundes Fenster gingen, im Innern des Turms verankert war. In der Mitte unten ein Reiter und ein Wanderer, rechts ein kniender Pilger, der als Pilgerstab einen großen Anker trug. Am rechten Bildrand, dicht vor dem Turm, ein steiler Felsen, von dem ein Mann mit einem Schwert herabstürzte, und links gegenüber, perspektivisch verkleinert, in der Ferne der Berg Ararat mit der Arche darauf. Oben in den Ecken zwei Sterne, jeder in einer Wolke, die schräge Strahlen auf den Turm herabsandten, auf denen zwei Figuren schwebten, ein Nackter, umwunden von einer Schlange, und ein Schwan. In der Mitte über dem Turm ein geflügelter Strahlenkranz, gekrönt von dem Wort »Oriens« und mit hebräischen Lettern beschriftet, aus dem die Hand Gottes nach unten ragte, die den Turm an einem Faden hielt.
Der Turm stand auf Rädern, er hatte einen quadratischen Hauptteil mit Fenstern, einem Tor und einer Zugbrücke auf der rechten Seite, darüber eine Art Brüstung mit vier kleinen Wachtürmen, jeder besetzt mit einem Bewaffneten, der einen Schild trug (beschriftet mit hebräischen Lettern) und einen Palmwedel schwenkte. Zu sehen waren jedoch nur drei Bewaffnete, den vierten verdeckte die Masse der achteckigen Kuppel, auf der sich ein gleichfalls achteckiger Aufbau erhob, aus welchem zwei große Flügel ragten. Darüber eine weitere, etwas kleinere Kuppel mit einem viereckigen Türmchen darauf, in dem durch hohe Bogenfenster mit schmalen Säulen eine Glocke zu sehen war. Schließlich noch eine kleine vierschalige Kuppel, auf welcher der Faden verankert war, den senkrecht darüber die Hand Gottes hielt. Rechts und links neben der obersten Kuppel in der Luft das Wort »Fama« und über dem Ganzen ein geschwungenes Schriftband mit den Worten: »Collegium Fraternitatis«.
Doch nicht genug der Bizarrerien, denn aus zwei runden Fenstern des Turmes ragten links ein enormer Arm, riesig im Vergleich zu den anderen Figuren, der ein Schwert hielt, als gehörte er zu dem geflügelten Wesen, das anscheinend im Innern des Turms gefangen saß, und rechts eine große Trompete. Schon wieder die Trompete...
Mir kam ein Verdacht beim Betrachten der Öffnungen des Gebäudes: zu viele und zu regelmäßig in den Kuppeltürmen, dagegen wie zufällig an den Wänden des Hauptteils. Der Bau war nur zu zwei Vierteln zu sehen, in orthogonaler Perspektive, aber man durfte aus Gründen der Symmetrie annehmen, dass sich die Tore und Fenster und runden Luken, die auf der einen Seite zu sehen waren, auch auf der gegenüberliegenden jeweils in gleicher Anordnung wiederholten. Also: vier Bogenfenster im Glockenturm, acht Fenster in dem achteckigen Kuppelaufbau darunter, vier offene Wachtürme, je drei Öffnungen an der Ost und der Westfassade, je sieben an der Nord und der Südfassade. Machte zusammengezählt: sechsunddreißig Öffnungen.
Sechsunddreißig. Seit über zehn Jahren verfolgte mich diese Zahl. Zusammen mit hundertzwanzig. Die Rosenkreuzer. Hundertzwanzig durch sechsunddreißig ergibt — wenn man bei sieben Ziffern bleibt 3,333333. Übertrieben perfekt, aber vielleicht lohnte es sich, die Zahl zu probieren. Ich probierte sie. Ohne Erfolg.
Mir schoss durch den Sinn, dass diese Zahl, multipliziert mit zwei, fast genau die Zahl des Großen Tieres ergibt, 666. Aber auch diese Konjektur erwies sich als zu phantastisch.
Schließlich fiel mein Blick auf den Strahlenkranz oben im Zentrum, den Sitz Gottes. Die hebräischen Lettern waren gut zu erkennen, auch von meinem Stuhl aus. Aber Belbo konnte doch auf Abulafia keine hebräischen Buchstaben schreiben. Ich sah genauer hin: ja natürlich, das kannte ich, sicher, von rechts nach links: Jod, He, Waw, He. Jahweh, der Name Gottes.
5
Die zweiundzwanzig elementaren Lettern schnitt er, formte er, kombinierte er, wog er, stellte er um und formte mit ihnen alles Geschaffene sowie alles, was es in Zukunft zu formen gibt.
Sefer Jezirah, 2.2
Der Name Gottes ... Ja, natürlich. Ich erinnerte mich an den ersten Dialog zwischen Belbo und Diotallevi an dem Tag, als Abulafia im Büro installiert worden war.
Diotallevi stand in der Tür seines Zimmers und heuchelte Nachsicht. Seine Nachsicht hatte immer etwas Vorwurfsvolles, doch Belbo schien sie mit Nachsicht zu akzeptieren.
»Der wird dir nichts nützen. Oder willst du etwa darauf die Manuskripte umschreiben, die du nicht liest?«
»Er nützt mir zum Klassifizieren, zum Anlegen von Karteien, zum Aktualisieren von Bibliografien. Ich könnte auch eigene Texte darauf schreiben.«
»Ich denke, du hast geschworen, nie etwas Eigenes zu schreiben.«
»Ich habe geschworen, die Welt nicht mit einem weiteren Buch zu behelligen. Ich habe gesagt, da mir klar ist, dass ich nicht das Zeug zu einem Protagonisten habe ...«
»... wirst du ein intelligenter Zuschauer sein. Ich weiß. Und nun?«
»Nun, auch der intelligente Zuschauer, der aus einem Konzert kommt, trällert den zweiten Satz vor sich hin. Was nicht heißt, dass er ihn in der Carnegie Hall dirigieren will ...«
»Also wirst du jetzt Trallala-Schreibexperimente machen, um zu entdecken, dass du nicht schreiben darfst.«
»Das wäre doch eine ehrliche Wahl.«
»Sie meinen?«
Diotallevi und Belbo stammten beide aus Piemont und ergingen sich oft über jene Fähigkeit guterzogener Piemontesen, jemandem höflich zuzuhören, ihm in die Augen zu sehen und dann »Sie meinen?« zu sagen in einem Ton, der scheinbar artiges Interesse bezeugt, in Wahrheit aber tiefe Missbilligung ausdrückt. Ich sei ein Barbar, sagten sie, mir würden diese Feinheiten immer und ewig entgehen.