Hastig beugte sich Jakob vor.
»Weg!. Holt die Zeugen. Ruchloser Wahn. Oh selige Madonna!. Singt. singt. ihr Distelfinken. Jesu rotes Blut. Barmherzigkeit und Wahrheit. findet sie nur im Schoß der Jungfrau.«
Das gequälte, kaum verständliche Gestammel von röchelnden Lauten unterbrochen, machte Jakob eine Gänsehaut. Er hatte das Gefühl, als versuchte der alte Mönch mit verzweifelter Kraftanstrengung den betäubenden Schleier seines Fieberdeliriums zu durchbrechen und ihm etwas Wichtiges mitzuteilen.
»Ich höre Euch!«, sagte Jakob mit klopfendem Herzen und griff nach der Hand des Mönches, die sich sofort wie eine Kralle an ihn klammerte. »Was ist es, das Ihr mir sagen wollt? Wollt Ihr beichten? Soll ich einen Eurer Brüder rufen?«
»Singen. mit der Madonna. Disteln und Ähren. sie ruhen im Strom. Zeugen der Schande. gottloser Wahn. auf der Insel unserer Töchter. unschuldiges Blut.«
Angestrengt versuchte Jakob dem unverständlichen Gemurmel des Fieberkranken einen Sinn, eine Botschaft oder Aufforderung zu entnehmen. Aber es war vergebliche Mühe. Er vermochte mit dem Gestammel nichts anzufangen.
Während er noch angestrengt auf das Gemurmel von Bruder Anselm lauschte, vernahm er auf einmal ein merkwürdiges Geräusch. Es hörte sich wie ein Kratzen an, ein scharfes Geräusch, als wenn ein schweres Stück Metall über Stein schabt.
Jakob stutzte, richtete sich vom Bett auf und lauschte.
Da war es wieder! Verwirrt sah er sich in der Zelle um und suchte nach der Ursache für dieses merkwürdig schabende Kratzen. Doch es war schon wieder verstummt und sein umherschweifender Blick fand nichts, was eine Erklärung bieten konnte.
Nun, vielleicht hatte er sich dieses seltsame Geräusch ja auch bloß eingebildet. Die Fieberphantasien des sterbenskranken Mönches konnten einem schon gehörig zusetzen und einem wohl auch Dinge vorgaukeln, die gar nicht da waren. Oder aber das Geräusch war oben aus dem schweren Dachgebälk gekommen, das ja bekanntlich die merkwürdigsten Geräusche erzeugte, wenn das Holz sich bei veränderten Temperaturen zusammenzog oder ausdehnte.
Was immer es auch sein mochte, ihn sollte es nicht weiter interessieren. Er hatte hier sowieso nichts verloren und war gut beraten so schnell wie möglich zu verschwinden. Sollte doch dieser Novize Dominik herausfinden, was Bruder Anselm vor seinem Tod unbedingt noch loswerden wollte. Er für seinen Teil hatte mehr als genug für den armen Kerl getan und sollte besser seinen eigenen Vorteil im Auge behalten.
Die Tür flog mit einem Knall auf und zu Tode erschrocken sprang Jakob vom Schemel auf, der dabei polternd zu Boden stürzte. »Heiliges Kanonenrohr, habt Ihr mich erschreckt!«, stieß er hervor und presste die Hand vor die Brust. Der starke Windzug, den die heftig aufgestoßene Tür durch die Zelle jagte, löschte die Kerze in der Wandnische. Einzig der graue Schimmer Tageslicht, der durch die Ritzen der Schlagläden fiel, kämpfte jetzt noch gegen die Dunkelheit.
Bruder Tarzisius stürzte zu Jakob in die Zelle und packte ihn mit beiden Händen an der Konversenkutte. »Was habt Ihr hier zu suchen?«, fuhr er ihn grob an und zerrte ihn fast von den Füßen. »Was schnüffelt Ihr hier herum?«
»Ich. ich. wollte Bruder Anselm nur einen Krankenbesuch abstatten!«, stotterte Jakob verstört. »Dominik, der Novize.«
Der Subprior ließ ihn nicht einmal ausreden. »Was habt Ihr mit Bruder Anselm gesprochen?«
»Gesprochen?. Ich?. Nichts!«
»Lügt mich nicht an!«, zischte Bruder Tarzisius und bohrte seinen Blick in Jakobs Augen. »Ich habe doch im Flur gehört, dass Ihr mit ihm gesprochen habt! Und er hat Euch geantwortet! Untersteht Euch also mir frech ins Gesicht zu lügen!«
Am liebsten hätte Jakob ihm geantwortet, dass doch wohl er, Bruder Tarzisius, hier der dreiste Lügner sei. Denn nie und nimmer hatte er bei geschlossener Zellentür draußen auf dem Gang auch nur ein Wort von dem hören können, was der Fieberkranke mit kraftloser, röchelnder Stimme von sich gegeben hatte. Er, Jakob, hatte ihn ja selbst kaum verstanden und dabei hatte er sich doch ganz nahe zu ihm vorgebeugt!
Aber eine innere Stimme warnte Jakob davor, den Subprior, der zweifellos ein überaus hitziges Temperament besaß, unnötigerweise noch mehr zu reizen. »Ich lüge nicht, ehrwürdiger Bruder!«, antwortete er deshalb mit vorsichtiger Zurückhaltung. »Miteinander gesprochen haben wir wirklich nicht. Er hat nur irgendetwas in seinem Fieberwahn gesagt.«
»Was genau?«, verlangte der Subprior schroff zu wissen.
»Ich weiß es nicht!«, beteuerte Jakob. »Er hat nicht in ganzen Sätzen gesprochen, sondern nur sinnloses Zeug gestammelt.«
»Was für ein sinnloses Zeug?«, fragte Bruder Tarzisius mit herrischer Stimme. »Ich will jedes Wort wissen, habt Ihr mich verstanden?«
Jakob warf die Arme in einer Geste der Hilflosigkeit und des Unverständnisses hoch. »Mein Gott.«, begann er.
»Untersteht Euch den Namen unseres Herrn missbräuchlich in den Mund zu nehmen!«
»Er hat etwas von Gesang gestammelt und von der seligen Jungfrau, von Blut und Schande und Wahrheit und all solch einem Zeug!«, antwortete Jakob und nun brach der Ärger doch bei ihm durch. Welches Recht nahm sich der Subprior bloß heraus ihn so schäbig zu behandeln, als hätte er sich etwas zu Schulden kommen lassen! »Nichts davon hat auch nur annähernd Hand und Fuß gehabt. Jedenfalls habe ich mir nichts zusammenreimen können.«
»Und das soll ich Euch glauben?«, fragte der Subprior voller Misstrauen.
Jetzt explodierte Jakob. »Ob Ihr mir glaubt oder nicht, interessiert mich einen feuchten Dreck!«, platzte er heraus. »Vielleicht wollte er ja, dass ich jemanden hole, damit er die Beichte ablegen kann! Mir ist es auch völlig wurscht, was er wollte und was Ihr glaubt! Was mir jedoch gar nicht passt, ist, dass Ihr mich wie einen Strolch behandelt! Ich habe meinen Esel verloren und meine Knochen in Wind und Wetter riskiert, um mein Versprechen zu halten und diesen alten Mönch nach Himmerod zu bringen. Aber auf die zugesagte Entlohnung und Entschädigung warte ich noch immer! Wenn wir also über Strolche reden wollen, dann habe ich dazu meine ganz eigene.«
Jakob fand keine Gelegenheit seinen Satz zu beenden. Denn in diesem Moment tauchte Prior Pinius in der Tür auf und fragte mit naiver Verblüffung: »Was geht denn hier vor sich?«
Bruder Tarzisius ließ Jakob augenblicklich los. »Oh, eine kleine Meinungsverschiedenheit darüber, wie viel Besuch dem Kranken zuzumuten ist, wo er doch schon an der Schwelle zu Gottes Königreich steht. Nichts, womit Ihr Euch belasten müsstet, ehrwürdiger Bruder«, antwortete er, während seine zornige Miene und sein herrisches Betragen sich von einem Wimpernschlag auf den anderen in aufgesetzte Liebenswürdigkeit verwandelten. »Ich glaube, die Missverständnisse sind ausgeräumt und wir verstehen uns jetzt, nicht wahr?« Er bedachte Jakob nun mit einem falschen Lächeln.
»Ja, ich habe Euch sehr wohl verstanden, Bruder Tarzisius«, erwiderte Jakob sarkastisch und dachte, dass der Subprior doch wahrlich ein ausgemachter Lügner war.
Dem Prior entging der Sarkasmus völlig, was Jakob zu dem Schluss kommen ließ, dass Bruder Pinius offenbar äußerst naiv und leicht hinters Licht zu führen war. Denn er nickte mit freundlicher Erleichterung und sagte zu Jakob in väterlichem Ton: »Ein offenes Wort zur rechten Zeit bewahrt alte Freundschaften, schafft gegenseitigen Respekt und baut zukünftigen Missverständnissen vor. Eure Sorge um Bruder Anselms Befinden ehrt Euch. Doch nun geht in Frieden Eurer Wege, mein Sohn.«
»Ich täte nichts lieber als das«, murmelte Jakob grimmig, während er sich an Bruder Tarzisius vorbeizwängte. »Wenn man mich nur wie versprochen auszahlen würde!«