Mit einer geballten Wut im Magen stürmte er den Gang und die Treppe hinunter. Er musste jetzt erst einmal an die frische Luft und sich irgendwie abkühlen, um sich in seinem Zorn nicht zu einer Dummheit hinreißen zu lassen! Er brauchte einen klaren Kopf, wenn er sich seine Belohnung notfalls auf eigene Faust beschaffen wollte, und einen guten Plan. Aber erst musste er seinen wollenen Umhang und Schal holen, die mit seinen anderen Sachen zum Trocknen in der Küche über der Leine hingen.
Ohne sich um die verdrossenen Blicke von Bruder Anton zu kümmern, der gerade einen großen Eisenkessel an den schweren Haken über der Feuerstelle hängte, durchquerte er das Küchengewölbe, zerrte Umhang und Schal von der Leine und ging ebenso wortlos und selbstbewusst, wie er auch gekommen war. Er war es satt sich herumstoßen zu lassen - egal, von wem! Von Mönchen würde er sich jedenfalls nicht übers Ohr barbieren lassen!
Sechstes Kapitel
Der schneidende Wind hatte sich gelegt und auf dem Klosterhof regte sich fast kein Lüftchen. Dafür hing der Himmel grau und tief wie eine schwere Schieferplatte über dem Land. Jakob brauchte über keine hellseherischen Kräfte zu verfügen, um zu sehen, dass Schnee in der Luft lag.
Eine Weile wanderte er ziellos auf dem Gelände der Abtei umher und staunte nicht schlecht, wie viele klösterliche Werkbetriebe und Gebäude innerhalb der Umfassungsmauern lagen. An mehreren Stellen waren Baumaßnahmen im Gange, so auch am rückwärtigen Teil des Konventsgebäudes. Sein Weg führte ihn zur Pforte, wo er einen Blick in die Stallungen und die Hufschmiede warf. Die Werkstatt wurde von zwei bulligen, aber freundlichen Konversen betrieben und während er ihnen bei der Arbeit zusah und die Wärme ihres Schmiedefeuers genoss, verzehrte er seinen Rest Brot und eine Kartoffel. Anschließend trieb er sich eine Weile beim Pfortenhaus und der Torkapelle herum, wo er unglücklicherweise dem Portarius Bruder Johannes in die Arme lief. Dieser zeigte ihm voller Stolz den Altar zu Ehren des heiligen Bernhard von Clairvaux, begnügte sich dabei jedoch nicht mit einigen erklärenden Worten, sondern holte zu weit greifenden Ausflügen in die Geschichte der Zisterzienser aus.
»Der heilige Bernhard, der geniale Prediger und Kirchenlehrer, ist der Patron aller Zisterzienser. Eigentlich ist er der wahre Begründer unseres Ordens, auch wenn es die Zisterzienser schon gab, als er im Alter von zweiundzwanzig Jahren in das noch junge Reformkloster von Citeaux eintrat, was im Jahre des Herrn 1112 geschah. Seine große Begabung und Sendung offenbarte sich schon drei Jahre später, als er zum Gründerabt von Clairvaux, unserem Mutterkloster, wurde«, berichtete Bruder Johannes mit großer Begeisterung.
»So, so«, murmelte Jakob.
»Ja, fast siebzig Klöster gründete er zu seinen Lebzeiten, davon Himmerod im Jahre 1134. In einsamen Tälern von besonderer landschaftlicher Schönheit und auf kargem Boden zu siedeln, um mit der eigenen Hände Arbeit das wirtschaftliche Überleben des Klosters zu sichern, gehört mit der Hingabe zu Gebet und Kontemplation von Anfang an zu den großen Stärken unseres Ordens.« Bruderjohannes nickte nachdrücklich und strahlte ihn an wie ein Vater, der von den großartigen Leistungen seines Sohnes erzählt. »Der heilige Bernhard war aber nicht nur Gründer von Klöstern, sondern auch ein flammender Kreuzzugsprediger, der Könige und Edelleute dazu brachte, das Kreuz aus seiner Hand entgegenzunehmen und ins Heilige Land zu ziehen! Wie bitter es ihn deshalb getroffen hat, als der zweite Kreuzzug von 1149, den er mit solcher Leidenschaft unterstützt hatte, dann ein so schändliches, klägliches Ende nahm. Ein schwerer Schlag, von dem sich unser heiliger Bernhard nicht mehr erholen sollte, denn schon 1153 nahm ihn unser Herr zu sich. Wisst Ihr, warum man unseren Patron oft mit einem Bienenkorb oder mit einem weißen Hund darstellt?«
Jakob wusste es nicht und ehrlich gesagt interessierte es ihn auch wenig, was ihn jedoch nicht vor den Erklärungen des kleinen Mönches schützte. Er hatte alle Mühe dem eifrigen Wortschwall des Portarius zu entkommen, ohne dessen Gefühle zu verletzen, was er gern vermeiden wollte. Denn Bruder Johannes gehörte mit Bruder Isenbard zweifellos zu jenen Ordensleuten von Himmerod, die sich in der Weltabgeschiedenheit ihres harten, klösterlichen Lebens ein freundliches Wesen bewahrt hatten - was man wahrlich nicht von allen hier behaupten konnte.
Als er den Ausführungen des Pfortenbruders endlich entwischt war, wandte Jakob sein flüchtiges Interesse auf der anderen Seite der Klosteranlage Mühle, Walkmühle und Weberei zu. In Bäckerei und Brauerei hätte er sich gern länger aufgehalten, wurde jedoch ausgerechnet dort im Handumdrehen von unleidlichen Konversen und Mönchen vertrieben, die wie Küchenbruder Anton keinen Fremden in ihrem Reich duldeten, und so schlenderte er bald wieder draußen herum und fragte sich, wie gut wohl die mächtigen Kornspeicher gefüllt waren, an denen er vorbeikam. Dann ging er zum abgebrannten Gästehaus hinüber, wo Liffard und zwei andere Laienbrüder damit beschäftigt waren, die Steine und Balken, die noch für zukünftige Bauvorhaben verwendet werden konnten, von Dreck und Lehm zu säubern und vor der Ruine säuberlich aufzuschichten. Er machte sich auch mit der Lage der anderen Wirtschaftsgebäude vertraut, besah sich den Friedhof, der auf der Nordseite der umfriedeten Klosteranlage lag, mit seinen schmucklosen Gräbern und der kleinen Friedhofskapelle - und betrat nach einigem Zögern schließlich die Abteikirche.
Wie der Zufall es wollte, stieß er im Vorraum der romanischen Basilika, dem so genannten Paradies, auf Bruder Isenbard. »Ihr kommt ja wie gerufen, junger Freund!«, rief dieser gedämpft, wäh-rend er sich nach rechts und links beugte und sich dabei mit der linken Hand den schmerzenden Rücken rieb. »Meine alten Knochen wollen heute mal wieder nicht so, wie es die Arbeit eigentlich verlangt. Ihr könnt mir ein wenig zur Hand gehen, Jakob!« Dabei deutete er auf eine Lattenkiste, die mit Kerzen aus der klostereigenen Kerzenzieherei gefüllt war.
Jakob unterdrückte ein geplagtes Seufzen, hob die Kiste auf, die ihm recht leicht vorkam, und folgte dem Mönch, der offenbar der Klosterknecht für tausend kleine Aufgaben und nicht eine einzige große war, zu all den Seitenaltären. Am Schluss drückte Bruder Isenbard ihm vor dem St.-Ursula-Altar eine Kerze in die Hand und raunte gutherzig: »Sie soll Euch nichts kosten, Jakob Tillmann. Bestimmt werdet Ihr guten Gebrauch davon machen. Möge Euer Bittgebet erhört werden.« Er lächelte ihm zu, klemmte sich die leere Kiste unter den Arm und schlurfte davon, nachdem er in Richtung des Hochaltars, der nach zisterziensischer Ordenstradition der Gottesmutter geweiht war, niedergekniet und sich bekreuzigt hatte.
Jakob starrte einen Augenblick unschlüssig auf die Kerze in seiner Hand. Wann hatte er das letzte Mal eine geweihte Kerze in der Hand gehalten, ja wann das letzte Mal von sich aus eine Kirche betreten? Das war gewesen, bevor Quirin Schlehenbusch sich seiner angenommen hatte, was nun schon über zehn Jahre zurücklag. Und was hatten damals die Kerzen sowie seine flehentlichen Gebete vor dem Kruzifix und der Muttergottes ausgerichtet? Nichts.
Einen langen Moment stand er reglos da. Dann zündete er die Kerze an einem der brennenden Lichter des Seitenaltars an und stellte sie auf. Er kniete jedoch nicht nieder und faltete auch nicht die Hände zum Gebet. Erinnerungen an seine Mutter bedrängten ihn mit aller Macht und er biss sich auf die Lippen um sowohl die Tränen als auch einen lästerlichen Fluch zurückzuhalten, der ihm in die Kehle stieg. Abrupt wandte er sich ab und stürzte förmlich aus der Kirche.
Er lief noch immer, als er die Stallungen erreicht hatte. Wie von Furien gehetzt, stürmte er um die Ecke - und hätte beinahe den Schweden über den Haufen gerannt, der dort unter dem Vordach neben einer Tonne an der Wand lehnte und mit seinem Messer an einem handtellergroßen, flachen Stück Holz herumschnitzte.
Jakob entschuldigte sich, blieb auf die Tonne gestützt stehen, weil er plötzlich nicht mehr wusste, wohin er eigentlich wollte, und rang nach Atem. Sein kopfloses Davonstürzen war ihm auf einmal peinlich. Aber warum konnte die Erinnerung nicht gnädiger sein und im Laufe der Jahre die entsetzlichen Bilder der Vergangenheit verblassen lassen?