Jakob ließ sich die Sache kurz durch den Kopf gehen. Bruder Tarzisius hatte sich bei ihm in aller Form entschuldigt und versprochen ihm zu seinem verdienten Lohn zu verhelfen. Das bedeutete einen großen Fortschritt. Ungern hätte er sich als Dieb aus der Abtei fortgeschlichen. Dem Subprior nun den Gefallen abzuschlagen war deshalb nicht klug. Es war ratsamer ihn sich weiterhin gewogen zu halten. Zudem verlockte ihn die Fahrt mit dem Fuhrwerk mehr als die Aussicht in den Mauern der Klosteranlage untätig darauf zu warten, dass man ihn auszahlte. Er hatte etwas zu tun und brachte auf sinnvolle Art die Zeit herum.
»Also gut, ich mache die Fahrt. Vorausgesetzt Bruder Liffard kennt den Weg.«
»Er kennt ihn so gut wie kein anderer, kommt er doch aus Steinborn«, versicherte Bruder Tarzisius.
Zwanzig Minuten später saß Jakob mit Bruder Liffard auf dem Kutschbock eines klobigen Fuhrwerkes, das mit dem Mastfutter und dem Wein für die beiden kräftigen Braunen nicht allzu schwer beladen war. Unter dem Sitz stand ein Bastkorb, der mit Schinkenbroten, hart gekochten Eiern und anderen deftigen Köstlichkeiten gut gefüllt war. Sie legten sich jeder noch eine Pferdedecke um die Schultern, dann griff Jakob mit leichtem Herzklopfen zu den Zügeln - und atmete insgeheim erleichtert aus, als das Gespann sich gehorsam ins Geschirr legte.
Jakob lachte und warf einen Blick über die Schulter zurück, als sie die Pforte passierten und das hohe Kreuzgewölbe den Hufschlag wie ein mächtiger Schalltrichter verstärkte. Einen Augenblick war ihm so, als sähe er den Mönch mit der Augenklappe aus dem Konventsgebäude laufen und ihm zuwinken. Aber dann sagte er sich, dass er sich wohl irrte, und so wandte er den Kopf wieder nach vorn, während das schwere Tor schnell hinter ihnen zurückblieb. Denn die Pferde, die durch das schlechte Wetter lange im Stall eingeschlossen gewesen waren, zeigten einen freudigen Drang ihre überschüssige Kraft loszuwerden und in einen flotten Trab zu fallen.
Die Straße wand sich durch Wälder und Hügelketten, die unter einer knöcheltiefen Schneedecke lagen. Von dem hohen Kutschbock eines robusten Fuhrwerkes aus, das von zwei kräftigen, wohlgenährten Pferden ohne sonderliche Mühsal gezogen wurde, hatte die Straße mit ihren Steigungen, Windungen und Bodenrillen wenig Ähnlichkeit mit dem mühsamen Weg, den er zu Fuß und mit der Deichsel eines Eselskarrens in der Hand kennen gelernt hatte.
Das Gespann zu lenken ging Jakob leichter von der Hand als gedacht und er fühlte sich so gut wie schon lange nicht mehr. Er war in bester Stimmung und fand sogar Gefallen an Bruder Liffards Geschichten. Sein Begleiter erwies sich als ebenso geschwätzig wie einfältig - und besaß zweifellos die scharfen Ohren eines Luchses. Denn wie Jakob seinem von Kichern begleiteten Reden entnehmen konnte, entging ihm kaum etwas, was innerhalb der Klostermauern geschah und gesprochen wurde.
So erfuhr er, dass der hochbetagte Himmeroder Abt Ambrosius seiner Amtsgeschäfte müde war und seine freie Zeit am liebsten damit verbrachte, Inkunabeln kunstvoll auszumalen und an einer geschichtlichen Abhandlung über die Himmeroder Abtei zu arbeiten. Und dass mit seiner baldigen Abdankung zu rechnen sei.
»Dann wird Euer neuer Abt ja wohl Bruder Pinius heißen«, vermutete Jakob.
Liffard grinste breit. »Wisst Ihr, was Bruder Bruno, unser Cellerar, gesagt hat? >Eher wird der Tölpel Liffard Kardinal, als dass Bruder Pinius auf dem Abtstuhl Platz nimmt!<« Er kicherte. »Oh, die Kardinalsfarben würden mir schon gut zu Gesicht stehen. Nur wo soll ich im Sommer bei der Arbeit im Klostergarten und auf den Feldern mit der Mitra hin? Und der dicke Ring wie auch der Stab würden mir ganz schön lästig sein. So was taugt nicht zum Jäten und Umgraben.«
»Ist eine Mitra nicht ein Würdezeichen von Bischöfen und nicht von Kardinälen? Außerdem glaube ich nicht, dass man einen Kardinal irgendwo in einem Klostergarten beim Unkrautjäten oder auf einem Feld beim Umgraben sehen kann«, spottete Jakob.
»Kein Wunder!«, meinte Liffard in einem Tonfall, als bedauerte er die Kardinäle um ihre schwere Last und die Beschränkungen, die ihr hohes Kirchenamt ihnen auferlegte.
»Und warum kommt Bruder Pinius für die Abtweihe nicht in Frage?«, wollte Jakob wissen.
»Weil er bei den religiösen Eiferern in unserem Konvent und bei der erzbischöflichen Kurie in Trier keine Gunst genießt, so hat es Bruder Anton einst zu Bruder Chrysostomus gesagt, als wir letztes Jahr den Fischteich trocken gelegt und die Dämme erneuert haben«, antwortete Liffard. »Er soll zu milde sein, nicht streng genug auf Zucht und Ordnung sehen und genau wie unser hochwürdiger Abt mehr als einmal das Missfallen der hohen Herren in Trier erregt haben. Ich verstehe das nicht. Ich würde für Bruder Pinius mit beiden Händen stimmen, wenn ich dürfte. Denn keiner betet so andächtig wie unser Prior und im Beichtstuhl ist er wie ein gütiger Vater.«
»Wer hat dann die besten Chancen die Nachfolge von Abt Ambrosius anzutreten?«, fragte Jakob.
»Subprior Tarzisius«, antwortete Liffard ohne Zögern. »Er ist ein feiner Mann, gebildet und aus vornehmem Haus. >Ein Mann, der sich stets zur rechten Zeit ins rechte Licht zu setzen weiß und dessen Blick schon vom ersten Tag an auf den Abtstuhl gerichtet ist!<, habe ich Bruder Isenbard einmal sagen gehört.«
Jakob war nicht überrascht, dass Bruder Tarzisius ehrgeizige Pläne verfolgte und die Abtwürde eifriger anstrebte als Vollkommenheit in Gebet und klösterlichem Dienst.
»Ja, und dann hat Bruder Isenbard noch etwas ganz Merkwürdiges gesagt, nämlich: >Seine Familie füllt die Taschen des Erzbischofs. Und dass Wohltaten umsonst sind, glauben doch nur die Bösen und die Blöden! <« Liffard nagte an seiner Unterlippe und schüttelte den Kopf. »Wohltaten sind doch immer umsonst. Ist das nicht so etwas wie ein weißer Schimmel? Also, ich weiß mit diesen Worten heute genauso wenig anzufangen wie damals. Oder könnt Ihr Euch einen Reim darauf machen?«
Jakob konnte sehr wohl, hielt es jedoch für unnötig, Liffard darüber aufzuklären und seinen naiven Geist noch weiter in Verwirrung zu stürzen. Jetzt hatte er zumindest eine Ahnung von dem, was Bruder Tarzisius umtrieb und was sich hinter den Kulissen des Klosters abspielte. Vermutlich hatte auch das rätselhafte Verhalten des Subpriors, was den todkranken Bruder Anselm von Picoll betraf, mit seinem hoch gesteckten Ziel zu tun der nächste Abt von Himmerod zu werden. Nun, ihm sollte es gleichgültig sein, ob der Subprior bei seinem heimlichen Kampf um die Abtwürde nicht vor Intrigen und anderen wenig christlichen Methoden zurückschreckte, wenn er ihm nur endlich seinen gerechten Lohn für seine Dienste beschaffte!
Den Schwickerather Hof erreichten sie ohne Zwischenfälle kurz vor der zweiten Mittagsstunde, als die ersten Schneeflocken aus der schmutzig grauen Wolkendecke zu fallen begannen. Jakob staunte jedoch nicht schlecht, als der Verwalter des klösterlichen Hofes sich völlig überrascht zeigte.
»Drei Tonnen Mastfutter und ein Fass Ürziger Wein? Wie kommt Bruder Tarzisius bloß darauf, wir hätten nicht mehr genug Vorräte, wo wir doch erst vor zwei Wochen die Bestände gemeinsam durchgegangen sind?«, wunderte sich der Verwalter. »Das kann sich bloß um ein Missverständnis handeln. Aber gut, wenn er meint, wir sollten unsere Bestände noch mehr auffüllen, soll es mir recht sein.«
Jakob war es egal, ob die Vorräte auf dem Hof gebraucht wurden oder ob Bruder Tarzisius ein Fehler unterlaufen war. Er hatte eine unterhaltsame Fahrt hinter sich und dachte jetzt nur daran, so schnell wie möglich nach Himmerod zurückzukommen, bevor der leichte Flockentanz zu einem dichten Schneetreiben wurde. Wie konnte er auch ahnen, dass er in weniger als vierundzwanzig Stunden die tiefe Bedeutung dieses angeblichen Missverständnisses erkennen und bitter bereuen würde, dass er sich zu dieser Fahrt hatte überreden lassen.