Siebtes Kapitel
Kurz nach der Vesper traf Jakob mit Liffard wieder in der Abtei ein. Mittlerweile fiel der Schnee so dicht, dass die kraftlose Februarsonne den Tag schon für verloren gab. Dabei war es bis zum eigentlichen Einbruch der winterlichen Abenddämmerung noch eine gute Stunde hin. Über der Klosterpforte und im Hof vor den Gebäuden brannten die Laternen und warfen ihren gelblichen Lichtschein auf den jungfräulichen Schnee, der alle Geräusche dämpfte und den trügerischen Eindruck von Besinnlichkeit und Frieden erweckte.
Jakob brachte das Fuhrwerk unter dem weit vorgezogenen Vordach der Stallungen zum Stehen, wickelte die Zügel um die Bremsstange und steckte schnell noch eines der restlichen Schinkenbrote ein, bevor er vom Kutschbock sprang.
»Bruder Tarzisius!« Er lief dem Subprior nach, der bei seinem Eintreffen gerade aus der gegenüberliegenden Remise gekommen war und nun mit verdächtig eiligen Schritten von ihm weg und zurück zum Konventsgebäude strebte.
»Oh, Ihr seid schon zurück?«, fragte der Subprior und tat überrascht. »Nun, demnach habt Ihr wohl eine leichte Fahrt gehabt. Aber ich sagte ja, dass Ihr es gut bis vor Anbruch der Dunkelheit schaffen würdet. Dennoch ist es gut, Euch wohlbehalten zurück zu wissen. Besten Dank.«
Jakob berichtete ihm, dass der Verwalter des klösterlichen Hofes die drei Tonnen Mastfutter und den Wein ganz und gar nicht dringend erwartet hatte, sondern über mehr als ausreichende Vorräte verfügte. »Die Fahrt ist also völlig unnötig gewesen«, schloss er und war auf die Reaktion des Mönches gespannt.
Bruder Tarzisius zog die Augenbrauen jedoch nur in mildem Erstaunen hoch und antwortete unbekümmert: »Wirklich? Da muss ich in meinen Aufzeichnungen etwas falsch notiert haben. Aber das ist ja kein Beinbruch. Mastfutter und Wein sind auf Schwickerath genauso gut aufgehoben wie hier. Und wer weiß, wozu das noch mal von Nutzen ist.«
»Habt Ihr mit Eurem Abt wegen meines Lohnes gesprochen?«
»Ich habe das Thema gleich nach der Kapitellesung angesprochen, erhielt jedoch leider keine Gelegenheit es gebührend auszuführen, da unseren hochwürdigen Abt andere Sorgen auf der Seele drückten. Jedoch bin ich zuversichtlich diese Angelegenheit noch heute nach der Komplet oder doch spätestens morgen zu Eurer Zufriedenheit abschließen zu können«, versicherte Bruder Tarzisius in gewandter Redeweise.
Jakob sah ihn skeptisch an. Sagte der ehrgeizige Mönch die Wahrheit oder hielt er ihn nur hin?
»Ihr habt mein Wort, Jakob Tillmann!«, beteuerte der Subprior und fügte dann mit einem merkwürdig heiteren Lächeln hinzu: »Außerdem scheint uns ein neuer Schneesturm zu erwarten, mein Freund. Also wohin könntet Ihr bei diesem Wetter schon wollen?« Und damit ließ er ihn stehen.
Jakob sah ihm mit dem unguten Gefühl nach, dass der Subprior ein undurchschaubares Spiel mit ihm trieb. Warum hatte er ihn mit dem Fuhrwerk zum Schwickerather Hof geschickt, obwohl dafür keine Notwendigkeit bestanden hatte? Dass es sich um ein Missverständnis gehandelt haben könnte, schloss er aus. Dieser Mönch tat nichts, was er vorher nicht gut durchdacht hatte. Also warum hatte er ihn losgeschickt? Hatte er ihn an diesem Tag fern der Abtei halten wollen? Oder war es ihm nur darum gegangen, ihn irgendwie zu beschäftigen? Aber wenn ja - weshalb? Und was hatte all das bloß mit dem todkranken Bruder Anselm zu tun? Denn dass es da eine Verbindung geben musste, stand außer Frage!
Er beschloss dem aalglatten Subprior noch bis zum nächsten Vormittag Zeit zu geben. Wenn er die Angelegenheit dann nicht zu seiner Zufriedenheit geregelt hatte, würde er höchstpersönlich dafür sorgen, dass der Abt erfuhr, was er von Klosterbrüdern hielt, die Barmherzigkeit und Nächstenliebe predigten, ihm jedoch seinen gerechten Lohn schuldig blieben. Und sollte er ihm kein Gehör schenken, würde er eben zu drastischeren Maßnahmen greifen!
Gerade wollte er sich in die Schmiede zu den beiden umgänglichen Konversen begeben, um sich an dem Feuer dort aufzuwärmen, als der Mönch mit der Augenklappe sich aus dem Schatten der Torkapelle löste und ihn zu sich winkte. Widerwillig ging Jakob zu ihm hinüber.
»Was soll ich für Euch tun?«, fragte er sarkastisch. »Offenbar glaubt hier jeder mich für seine Zwecke einspannen und mir dann meinen Lohn schuldig bleiben zu können!«
»Für mich braucht Ihr nichts zu tun, Jakob«, antwortete Bruder Basilius, der die Kapuze seiner Kutte hochgeschlagen hatte. »Aber Ihr könnt eine Menge für Euch selbst tun.«
»So? Und das wäre?«
»Indem Ihr Himmerod den Rücken kehrt und Euch so schnell wie möglich aus dem Staube macht, solange Ihr noch könnt!«
Jakob sah ihn verblüfft an. »Ich soll mich davonstehlen? Und warum?«
»Weil Ihr ahnungslos in Dinge verwickelt zu werden droht, die Eurer Gesundheit sehr abträglich sein können!«
»Das wüsste ich schon gern genauer, Bruder Basilius.«
»Es geschieht zu Eurem eigenen Schutz, dass ich darauf verzichte, Euch genaue Auskünfte zu geben«, erklärte der Mönch, dessen Gesicht im Dunkel der Kapuze lag. »Wir leben in Zeiten der Verwirrung, in denen das Unkraut aufgeht und der reinen Saat das Licht nimmt! Und Ihr seid klug beraten diesem Unkraut aus dem Weg zu gehen.«
»Damit kann ich wenig anfangen, Bruder Basilius«, erwiderte Jakob ungehalten und wehrte sich gegen das Gefühl des Unbehagens, das der Mönch in ihm hervorrief - nicht allein durch seine Worte, sondern durch seine ganze geheimnisvolle Erscheinung. Aber so schnell wollte er sich nicht einschüchtern und aus der Abtei vertreiben lassen! »Und noch weniger kann ich mir für Euren Ratschlag etwas kaufen. Was Ihr und Eure Mitbrüder hier umtreibt und was die ganze Aufregung soll, die dieser alte Mönch, den ich auf seinen Wunsch hin nach Himmerod gebracht habe, offenbar ausgelöst hat, das interessiert mich nicht die Bohne. Alles, was ich will, ist meinen gerechten Lohn!«
»Nehmt das hier!« Der Mönch drückte ihm einen kleinen Leinenbeutel mit Münzen in die Hand und redete hastig auf ihn ein: »Aber seht in Gottes Namen zu, dass Ihr heute noch aus dem Kloster kommt, und zwar so heimlich wie möglich. Am besten schleicht Ihr Euch während der Komplet davon. Ihr könnt für die Nacht Unterschlupf auf dem Marienhof finden, der anderthalb Meilen von hier auf der linken Straßenseite liegt. Er ist gar nicht zu verfehlen, nicht einmal im Schneetreiben. Sagt, dass Bruder Basilius Euch geschickt hat, und man wird Euch ohne weitere Fragen aufnehmen.«
Jakobs Herz machte im ersten Moment einen Freudensprung, als er den Klang von Münzen vernahm und sich am Ziel seiner Wünsche wähnte. Seine Freude verwandelte sich jedoch schon Augenblicke später in Enttäuschung und ausgesprochenen Unmut, als er den Beutel in seine linke Handfläche leerte und sah, welch geringen Wert die Münzen besaßen. »Wollt Ihr Euch einen schlechten Scherz mit mir erlauben oder glaubt Ihr wirklich, ich lasse mich mit ein paar lumpigen Hellern abspeisen?«, entrüstete er sich. »Ich habe nicht an die Klosterpforte geklopft und um ein Almosen gebettelt! Drei bitterkalte Tage habe ich mich mit Eurem Ordensbruder abgeplagt und dabei auch noch mein prächtiges Zugtier verloren! Für diesen läppischen Betrag kann ich mir ja noch nicht einmal einen alten Ziegenbock kaufen, geschweige denn einen Esel!«
»Leider ist das alles, was ich Euch geben kann.«
»Es reicht aber nicht!« Aufgebracht warf Jakob die Münzen in den Beutel zurück und drückte ihn dem Mönch wieder in die Hand. »Ich will meinen Lohn, wie ich ihn mir erarbeitet habe und wie er mir zusteht. Und das bekomme ich auch, verlasst Euch drauf!«
»Ihr begeht womöglich einen schweren Fehler, wenn Ihr noch länger in Himmerod bleibt und nur an Eure Entlohnung denkt! >Verlass dich nicht auf deine Klugheit!< So steht es schon im Buch der Sprüche, Jakob Tillmann!«, warnte ihn Bruder Basilius eindringlich. »Hört auf meine Worte, vergesst das Geld und geht Eurer Wege, solange Ihr noch könnt!«