Aufgeregt winkte der Mönch ihn in den Hof, der hinter dem ersten Tor des Klosters, der so genannten porta prima lag. Jakob stellte zu seiner Verwunderung fest, dass sich dahinter noch eine weitere Mauer mit einer zweiten Pforte erhob. Dies war die eigentliche Klosterpforte, die porta secunda, wie Jakob später erfahren sollte.
Der Portarius warf im Licht der Torlampe einen raschen Blick auf den Kranken, der den Kopf unruhig hin und her warf. Bestürzung zeigte sich auf dem rundlichen Gesicht des Klosterbruders. »Heiliger Florian, er ist es wirklich! Pater Anselm von Picoll, der abgesetzte Abt aus dem Rheinland!« Fassungslos legte er seine Hand auf die Stirn des Kranken. »Muttergottes, steh ihm bei!«
Jakob stutzte. Diese klapperdürre, armselige Gestalt, der er am Laacher See seine Dienste verkauft hatte, sollte einmal ein Abt gewesen sein? Er konnte es kaum glauben. Was hatte ein Mann, der einst einem Kloster vorgestanden und damit doch wohl eine nicht geringe Macht ausgeübt hatte, allein und zu dieser Jahreszeit auf den verschneiten Wegen des unwirtlichen Eifellandes verloren? Und weshalb die große Eile, ausgerechnet in dieses abgelegene Kloster zu kommen, statt Ruhe und Genesung in der Benediktinerabtei Maria Laach oder einem guten Gasthof in deren Nähe zu suchen? Was mochte diesen schweigsamen, kranken Mönch, der offenbar einmal ein hohes Amt bekleidet hatte, bloß bewogen haben sein Leben so leichtfertig aufs Spiel zu setzen, um nach Himmerod zu gelangen?
Er kam nicht dazu, Fragen zu stellen oder sich weitere Gedanken darüber zu machen, denn kaum hatte der Pfortenbruder den kranken Mönch auf der Ladefläche des Eselskarrens erkannt, als er auch schon herumfuhr und mit erregter Stimme rief: »Liffard!. Lif-fard!. Liffard, wo steckst du? Wirst du dich wohl gefälligst sputen, in Gottes Namen?«
Ein kräftiger Bursche von vielleicht zwanzig Jahren, der seinem kahl rasierten Schädel und dem zotteligen Bart nach kein Mönch sein konnte, auch wenn er eine Art von brauner Kutte trug, tauchte aus einer Tür auf und kam mit einer Sturmlaterne in der erhobenen Rechten über den Hof gelaufen. Sein Oberkörper war leicht vornüber und nach rechts gekrümmt. Auf dem Rücken zeichnete sich unter seinem derben Gewand ein Buckel ab.
»Bin ja schon zur Stelle, Bruder Johannes!«, rief der Mann namens Liffard und lachte, obwohl es wahrlich nichts zu lachen gab. Der Eisregen war inzwischen in Schnee übergegangen, wurde dafür jedoch von einem scharfen Wind getrieben.
»Geh dem jungen Mann zur Hand, der Pater Anselm von Picoll auf seinem Karren hat! Er muss so schnell wie möglich in die Infirmaria. Jede Minute ist kostbar! Der Wille des Herrn geschehe, doch bete mit mir, dass uns wenigstens noch genug Zeit bleibt, um ihn mit den heiligen Sterbesakramenten zu versehen, bevor der Allmächtige seine Seele zu sich nimmt!«, wies der Pfortenbruder Johannes ihn aufgeregt an, nahm ihm die Laterne ab und schloss rasch das Tor. Dann eilte er ihnen voraus.
Nur zu bereitwillig Überließ Jakob seinen Karren mit dem Fieberkranken den kräftigen Händen von Liffard und ging nun neben ihm her. Augenblicke später passierten sie die zweite Pforte, die mit einem Kreuzgewölbe und einer Mittelnische versehen war, in der die Figur eines Heiligen stand. Nun hinderte keine Mauer mehr den Blick auf die innere Klosteranlage.
Flüchtig nahm Jakob die Torkapelle wahr, die gleich links neben der Durchfahrt lag, sowie ein Remisengebäude mit zwei breiten, rundbogigen Einfahrten. Rechter Hand bemerkte er Stallungen und den unverkennbaren Geruch von Pferden. Die Abteikirche und das sich rechts davon anschließende Konventsgebäude erkannte er an ihrer Silhouette. Schräg vor sich, dort, wo hinter den Klostermauern die Salm vorbeifließen musste, bemerkte er noch die Umrisse von mehreren anderen Ordensgebäuden.
Eines davon, das direkt an der Umfriedung lag, machte auf ihn den Eindruck einer Mühle.
Bruder Johannes hastete mit kurzen Trippelschritten auf das Konventshaus zu. Die Laterne pendelte hin und her und warf ihren gelblichen Lichtschein wie ein Irrlicht in die Nacht.
Sie kamen an einem kleinen, gedrungenen Bau vorbei, dessen Dachstuhl eingestürzt war, offenbar als Folge eines Brandes. Hier und da ragten verkohlte Balkenstummel auf und die Fassade rund um die leeren Fensterhöhlungen war rußgeschwärzt.
»Unser Gästehaus. Ist zwei Nächte nach Epiphanias abgebrannt. Oh, war das ein Feuer! Wie zu Walpurgis in Kyllburg«, sagte Liffard zu Jakob und kicherte. »Wart Ihr schon mal zum Walpurgisfeuer in Kyllburg?«
Jakob hatte den Namen des Ortes noch nie gehört. Bevor er jedoch etwas antworten konnte, wandte Bruder Johannes den Kopf und zischte verärgert: »Schwatz nicht so viel, Liffard! Die Seele wird durch das Ohr vergiftet wie der Leib durch den Mund!«
Liffard lachte mit einem leisen, glucksenden Geräusch und nickte Jakob fröhlich zu, als hätte er statt eines Rüffels eine Belobigung erhalten.
Sie erreichten das Konventsgebäude, in dem mittlerweile schon hinter mehreren Fenstern Lichter aufgeflammt waren. Als Bruder Johannes die drei Stufen zum Klosterportal hocheilte und die Tür öffnen wollte, wurde sie ihm von innen aus der Hand genommen. Ein schlanker Mönch von etwa dreißig Jahren und mit den ebenmäßigen Zügen einer klassischen Heldenstatue erschien in der Tür, umdrängt von mehreren nicht weniger neugierigen Mitbrüdern und einigen bärtigen Männern in braunen Kutten, deren Schädel ebenso gänzlich rasiert war wie der von Liffard.
»Was hat dieser Radau zu bedeuten, Bruder Johannes?«, verlangte er mit recht scharfer, gar nicht brüderlicher Stimme zu wissen. »Was geht hier mitten in der Nacht vor sich?«
Eilfertig und mit einem Anflug von Unterwürfigkeit sprudelte der Pfortenbruder hervor, wen sie da auf dem Karren hatten. »Die arme Seele brennt vor Fieber, Bruder Tarzisius!«
Ein Murmeln ging wie ein kurzes, scharfes Atemholen durch die Gruppe der Männer, die sich am Klosterportal eingefunden hatte und inzwischen auf über ein Dutzend angewachsen war.
Liffard stieß Jakob mit dem Ellbogen an. »Bruder Tarzisius ist unser Subprior«, raunte er ihm zu. »Er sorgt für die rechte Zucht bei den Mönchen und uns Konversen. Bruder Johannes sagt, er hat schon jetzt den frommen Eifer eines Heiligen und die strenge Zucht eines Jesuitenoberen! Man will schon Engel über seinem Haupt schweben gesehen haben.« Dabei stieß er ihn noch einmal heimlich in die Seite und kicherte hinter vorgehaltener Hand.
Jakob sah die Veränderung, die sich in den makellosen Zügen dieses schlanken Mannes vollzog, der den Habit des Zisterziensermönches trug, jedoch das Aussehen wie auch die selbstbewusste Haltung eines Edelmannes besaß. Als der Name Pater Anselm von Picoll fiel, verwandelte sich die Verärgerung auf Bruder Tarzisius’ Gesicht augenblicklich in hellwache Aufmerksamkeit. Mit zwei schnellen Schritten war er bei dem Fieberkranken und beugte sich über ihn.
»In der Tat, er ist es!« Er klang fast triumphierend. Doch schon im nächsten Moment zeigte sein ebenmäßiges Antlitz die gebotene Betroffenheit und seine Stimme bekam einen besorgten Klang, als er nun Anweisungen gab den ehemaligen Abt ins Haus zu tragen und zu versorgen.
Jemand rief nach dem Infirmarius, dem Krankenbruder. Doch der Subprior befahclass="underline" »Bringt ihn nicht in die Infirmaria, sondern in die freie Zelle neben der meinigen! Wer weiß, wie kurze Zeit ihm noch auf Erden vergönnt ist. Unser hochwürdiger Abt oder Prior Pinius werden ihm sicherlich unverzüglich die Lebensbeichte abnehmen, sofern Bruder Anselm noch bei Bewusstsein ist, und ihn mit den heiligen Sterbesakramenten versehen wollen.«
Als nun zwei kräftige Mönche an den Karren traten, um den Schwerkranken behutsam von seiner harten Lagerstatt zu heben, bemerkte Jakob unter den Umstehenden eine merkwürdige Gestalt, die so gar nicht zu den anderen Ordensleuten in ihrem einheitlichen, armseligen Habit zu passen schien.