Jakob ging das Wagnis ein sich auf den Hof und in die Scheune zu schleichen, wo er sich ins Heu vergrub und innerhalb weniger Minuten in einen tiefen Schlaf der Erschöpfung sank. Unbehelligt erwachte er eine gute Stunde vor Tagesanbruch. Er stellte sein Glück noch einmal auf die Probe, indem er in den Stall schlich, sich erst den Mund und dann die Taschen reichlich mit Hafer füllte sowie eine der drei Kühe molk, die ihn auch bereitwillig an ihr pralles Euter ließ. Nie hatte er etwas Köstlicheres getrunken als diese frische, warme, sahnige Milch. Gestärkt und mit neuem Mut machte er sich davon, noch bevor der Bauer und sein Gesinde erwachten. Er versteckte sich an diesem Tag wieder im Wald und brach in der folgenden Nacht in eine Schäferhütte ein, zu der ihn ein gnädiges Schicksal führte.
Die Flucht bei Nacht und Kälte sowie das Sichversteckthalten bei Tag wurden nun mehr und mehr zu einem Alptraum. Selten einmal litt er nicht unter quälendem Hunger. Das wenige, das er auf einsamen Bauernhöfen zu stehlen wagte, reichte nicht aus, um ihn länger als ein paar Stunden zu sättigen. Die Strapazen, die er seinem Körper abforderte, verlangten nach einer ganz anderen Kost. Aber er dachte nicht daran, aufzugeben und darauf zu warten, dass Mundt und seine Gehilfen ihn aufstöberten.
Es schneite in diesen einsamen, qualvollen anderthalb Wochen immer wieder, manchmal tagelang, was Segen und Fluch zugleich war. Einerseits machte der Schneefall ihm das Vorankommen noch schwerer, als es ohnehin schon war. Andererseits verloren sich seine Spuren immer wieder unter dem vielen Neuschnee, der über der Eifel herabfiel.
Jakob wurde immer schwächer und langsamer. Aber es waren nicht nur die körperlichen Kräfte, die ihn verließen. Auch sein Geist versank allmählich in einen Zustand der Ermattung, ja der Lähmung. Er erschrak selbst, als er sich am achten Tag seiner Flucht dabei ertappte, wie er mit einem Stock auf dem Boden der Schäferhütte, in die er eingebrochen war, sinnlose Kreise und Striche zog und dabei immer und immer wieder Kinderreime vor sich hin murmelte.
In der folgenden Nacht stürzte er schwer, als er neben einer Viehtränke über einen Weidezaun kletterte und vor Müdigkeit mit einem Fuß an der obersten Latte hängen blieb. Er fiel kopfüber und mit seinem verletzten Oberarm genau auf die Kante des langen Viehtroges. Nicht nur der notdürftige Verband riss dabei auf, sondern auch die Wunde, die sich schon geschlossen und mit einer dünnen Schorfschicht geschützt hatte. Der Schmerz war größer als damals, als ihm Mundt den Schnitt zugefügt hatte. Und er verließ ihn auch nicht wieder. Im Gegenteil, er wurde im Laufe des Tages immer ärger, denn die Wunde entzündete sich und ließ seinen Arm anschwellen.
In der elften Nacht fand Jakob an einem eingefrorenen Bachlauf in einer Ruine, die einst wohl eine Mühle gewesen war, notdürftige Unterkunft. Ihm war kalt und heiß zugleich. Sein Arm schmerzte, als hätte man ihn mit brennendem Öl Übergossen. Und er wusste, dass er Fieber hatte.
Ich kann nicht mehr weiter. Ich bin am Ende meiner Kräfte... das ist dann wohl das Ende meiner Flucht. So dachte er, bevor er in der Ruine unter altem Sackleinen in einen unruhigen Schlaf fiel. In seinen Alpträumen kehrte er nach Himmerod zurück.
Das Klirren von Metall und raue Männerstimmen rissen ihn in den frühen Morgenstunden aus dem Schlaf. Verstört und steif vor Kälte, fuhr er auf. Der Himmel war noch dunkel, doch die Ruine war vom hellen, flackernden Schein vieler Pechfackeln erfüllt. Und dann sah er den Henker Mundt mit schneebedecktem Umhang vom Pferd springen.
Sie hatten ihn gefunden!
Jakob sprang auf. Die Todesangst verlieh ihm noch einmal neue Kräfte. »Nein, lebend bekommt ihr mich nicht!«, schrie er, griff zu seinem dicken Knüppel, auf den er sich die letzten Tage gestützt hatte, und schlug wild um sich, um sich die näher rückenden Männer vom Leib zu halten.
Mundt lachte höhnisch und schlug seinen schwarzen Umhang mit dem feuerroten Samtkragen zurück, sodass sein Säbel an der linken Hüfte zum Vorschein kam. »Ihr habt uns lange genug aufgehalten, Jakob Tillmann. Jetzt kommt Ihr auf den Turm, Fuhrmann! Oder habt Ihr Eure zweite Unterredung mit meinem Herrn vergessen?«
Jakob holte zum Schlag aus und wollte sich auf ihn stürzen. Doch da zog Mundt seinen Säbel mit einer blitzschnellen Bewegung aus der Scheide und kam ihm zuvor. »Wie schade, dass Euer Kopf nicht fallen darf - zumindest noch nicht!«
Jakob sah die breite Klinge im Licht der Fackeln aufblitzen und auf sich zufliegen. Er wollte sich wegducken, aber sein Körper reagierte nicht mehr. Es ging alles zu schnell.
Die Klinge traf ihn mit der breiten Seite am Kopf und schleuderte ihn in einen bodenlosen, schwarzen Abgrund. Dass er auf der harten Erde aufschlug, spürte er schon nicht mehr.
Fünfzehntes Kapitel
Als Jakob aus seiner Bewusstlosigkeit erwachte, fand er sich gefesselt und geknebelt in einer Kutsche wieder. Dass es die Bischofsstadt Trier war, in die er gebracht wurde, erkannte er, als die Kutsche durch die Porta Nigra ratterte. Wenig später hielt sie in einem Hof. Dort schleppten ihn die Gehilfen des Henkers in den Turm des Greven, des erzbischöflichen Oberrichters.
»Bringt ihn gleich in die Folterkammer!«, trug Mundt seinen Handlangern auf, als sie im Licht von Pechfackeln eine steinerne Treppe hochstiegen. »Mein Herr wird keine Zeit verlieren und gleich mit der Befragung beginnen wollen.«
Die elf Tage und Nächte auf der Flucht hatten Jakob körperlich ausgelaugt und ausgezehrt. Zudem schwächte ihn das Fieber, das sein schmerzhaft entzündeter Arm ausgelöst hatte. Als man ihn jetzt in das fensterlose Gewölbe der Folterkammer zerrte, verlieh ihm die Todesangst allerdings noch einmal für einen kurzen Augenblick gewaltige Kräfte. Wild bäumte er sich auf und versuchte sich aus den Händen der Schergen zu befreien. Dabei schrie er aus vollem Leib. Doch der Knebel erstickte sein Schreien und die rohe Gewalt der Henkersknechte brach seinen Widerstand mit Leichtigkeit. Unter höhnischem Lachen schleiften ihn die Männer über den kalten Steinboden zu einer Wand, an der zwischen zwei rußenden Fackeln ein hohes Balkengestell aufragte. An dieses Gestell, dessen Rundhölzer mit Eisendornen gespickt waren, fesselten sie ihn.
»Das war gute Arbeit, Männer, auch wenn es etwas gedauert hat. Aber das lag am Wetter und keiner hätte es besser machen können«, lobte Mundt. »Der Domherr wird zufrieden sein. Hier ist Euer Lohn.« Er warf jedem seiner Gehilfen einen kleinen Geldbeutel zu.
Die gedungenen Handlanger steckten mit fröhlichen Mienen das Geld ein, versicherten dem Henker eifrig, ihm jederzeit wieder zu Diensten stehen zu wollen, und machten sich dann davon. Zurück blieb nur ein breitschultriger Mann in derber Kleidung, der wie Mundt das breite Kreuz eines Ochsen und die muskulösen Arme eines Flussschiffers besaß. Auf dem Kopf trug er eine topfförmige Filzmütze. Das rundliche, einfältig wirkende Gesicht mit der Stummelnase und den kleinen Augen machte den Eindruck, als könnte dieser Mann keiner Fliege etwas zu Leide tun. Er hieß Gotschalk Pleisgen - und war der Folterknecht.
»Steht nicht so faul herum, Pleisgen! Ihr könnt schon mal Euer Werkzeug zurechtlegen und für eine ordentliche Glut im Kohlenbecken sorgen!«, wies Mundt ihn von oben herab an. »Der Domherr wird jeden Moment erscheinen! Und Ihr wisst, wie sehr er Verzögerungen hasst!«
»Der hochwürdige Domherr wie auch der Greve beginnen nie mit dem Kohlenbecken, wenn Ihr mir diese Bemerkung erlaubt«, erwiderte der Folterknecht mit einer Spur Ingrimm in der Stimme. »Eure Herren mögen es in Würzburg anders gehalten haben, doch wer hier bei uns in Trier auf den Turm kommt und sich der peinlichen Befragung zu unterziehen hat, der macht zuallererst mit den Daumenschrauben und den spanischen Stiefeln Bekanntschaft. Es bleibt daher stets Zeit genug ein anständiges Feuer im Kohlenbecken zu entfachen.«
Jakob erschauerte und kalter Angstschweiß brach ihm aus. Übelkeit würgte ihn.