Jakob schloss kurz die Augen. »Von welchem weißen Stein redet Ihr?«, stieß er hervor.
»Wer seinen Weg vor Gott gegangen ist, der wird nach seinem Tod aus Seiner Hand jenen geheimnisvollen weißen Stein empfangen, auf dem sein neuer Name steht und mit dem zusammen ihm ein neues Wesen geschenkt wird. Nur Gott kennt diesen Namen, der ein Symbol für das ist, was er in seinem Himmelreich für uns bereitet. So steht es in der Offenbarung des Johannes!«, rief der Mönch ihm zu. »Und wie gesagt, mir scheint die Stunde noch nicht reif zu sein, um jetzt schon einen Blick auf meinen weißen Stein zu werfen. Also strengt Euch gefälligst an!«
»Ihr habt gut reden!«
»Ja, weil ich weiß, dass Ihr es schaffen könnt, Jakob. Also kommt, macht einen Schritt nach dem anderen«, sagte der Mönch nun mit sanfter, liebevoller Stimme. »Habt Vertrauen in Eure verborgenen Kräfte - und habt Vertrauen in mich. Los, gebt mir Euren Fuß!«
Jakob spürte die Hand des Mönches auf seiner Ferse. Die Berührung beruhigte ihn und wiederbelebte seinen Willen den gefährlichen Abstieg in die Tiefe fortzusetzen.
»Gut so!. Nur weiter so!«, lobte ihn der Mönch. »Ich kann schon den Kanal und einen Schimmer Tageslicht sehen!. Wir haben das Schlimmste hinter uns. Nur noch ein paar Stufen, dann sind wir den Messern entkommen. Henrik wird schon ungeduldig auf uns warten und sich fragen, wo wir bloß bleiben. Nein, schaut Euch nicht um! Konzentriert Euch ganz auf die Trittöffnungen und die Haltestangen.«
Aus der Folterkammer drang auf einmal ein dumpfes, rhythmisches Hämmern zu ihnen in den Schacht hinunter. Jakob wusste sofort, was das Geräusch zu bedeuten hatte. »Sie haben gemerkt, dass die Tür verriegelt ist! Und jetzt versuchen sie sich mit Gewalt Einlass zu verschaffen!«
»Nur die Ruhe, Jakob! Gleich sind wir an den Messern vorbei! Jetzt nur nicht die Nerven verlieren!«, redete der Mönch ihm gut zu und führte ihn Stufe um Stufe tiefer. Dann kam endlich der erlösende Ruf: »Jetzt! Jetzt habt Ihr die letzte Reihe Messer passiert! Die Gefahr ist gebannt, Jakob!. Und Ihr hattet schon aufgeben wollen!«
Jakob hob vorsichtig den Kopf und schaute ungläubig nach oben. Er sah schier endlose Messerklingen, die sich dreißig, vierzig oder noch mehr Ellen hoch vor der zusammengeschrumpften Schachtöffnung abzeichneten. Und ein Schauer des Grauens durchlief ihn, als er sich fragte, wie viele Opfer schon durch diesen mörderischen Messerschacht gestürzt waren.
»Habt Ihr gehört, was ich gesagt habe? Jakob!« Bruder Basilius zerrte ungeduldig an seiner Hose. »Lasst Euch fallen, sowie ich es Euch zurufe! Habt Ihr das verstanden?«
»Ja. ich werde tun, was Ihr sagt.« Jakob schaute nach unten. Der Schacht endete eine gute Manneslänge über dem Kanal. Er sah noch, wie der Mönch in die dunklen, stinkenden Fluten sprang, kurz untertauchte und dann prustend wieder auftauchte. Das Wasser reichte ihm bis zur Brust. Schnell watete er zur Seite. Dann winkte er und rief ihm zu: »Springt!«
Jakob ließ die Eisenstange los, hielt die Luft an und stürzte in den Abwasserkanal. Noch unter Wasser spürte er die kräftigen Hände des Mönches, die ihn packten und sofort auf die Beine zerrten.
»Oh Gott, was für eine ekelhafte Brühe!«, stieß Jakob hervor und hatte das Gefühl sich jeden Moment erbrechen zu müssen.
»Habe ich Euch eine Flucht aus der Folterkammer des Domherrn versprochen oder ein Bad in parfümierten Salben?«, fragte Bruder Basilius bissig und zerrte ihn weiter. »Bewegt Euch! Jede Sekunde ist kostbar!«
Der Kanal floss unter dem rundgemauerten Gewölbe noch etwa fünfzig Schritte weit dahin, bis er bei dem hellen Rundbogen in die Mosel mündete. Jakob watete, auf den einäugigen Zisterziensermönch gestützt, durch die brusttiefen Abwässer, die nicht nur aus Kloaken stammten, sondern auch aus den Badestuben sowie den Werkstätten der Gerber und Färber in den Kanal flossen. Glücklicherweise verdünnte der kräftige Stadtbach die stinkende Brühe.
Im Morast, der sich bei jedem Schritt wie Saugnäpfe um seine Füße schloss, verlor Jakob schon gleich zu Anfang seine halbhohen Stiefel. Er versuchte gar nicht erst sie zu retten, ihn beherrschte nur ein einziger Gedanke: Nichts wie an die frische Luft! Dort, wo sich am Ende des Kanals das helle Halbrund abzeichnete, lag die Freiheit!
Siebzehntes Kapitel
Mühsam kämpften sie sich dem Licht entgegen. Jeder Schritt im schlammigen Grund wurde für Jakob zu einer übermäßigen Anstrengung und jagte ihm eine neue Welle des Schmerzes durch den Körper. Dazu kamen die betäubenden Dämpfe und Gerüche, die sich unter dem gemauerten Kanalgewölbe stauten. Ohne die Hilfe von Bruder Basilius hätte er sich schon längst nicht mehr aufrecht halten können und er wäre in den ekelhaften Fluten versunken - der Freiheit so nahe und doch weiter von ihr entfernt, als seine eigenen Kräfte ihn tragen konnten.
Bruder Basilius stützte ihn und redete ihm gut zu. Doch Jakob nahm in seiner schmerzerfüllten Benommenheit kaum wahr, dass der Mönch zu ihm sprach. Verbissen richtete er seinen Willen darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Das helle Ende des Tunnels kam näher. Und dann sah er, wie sich vor ihm ein langer Schatten aus der Dunkelheit löste. Es handelte sich um ein Ruderboot, in dem sich nun eine Gestalt aufrichtete. Das musste Henrik Wassmo sein!
»Ich rief aus Nacht und Bangen und du im Licht, Herr, hast mich erhört!«, rief der Schwede erleichtert und dabei klang seine Stimme merkwürdig gedämpft.
Jakob taumelte an der Seite von Bruder Basilius auf das Ruderboot zu. Er sah und roch, dass Henrik Wassmo sich ein in Essig getränktes Tuch um Mund und Nase gebunden hatte, das er nun herunterzog. Er war wie ein einfacher Tagelöhner gekleidet und hatte seine blonde Lockenflut unter einer ausgebeulten Mütze versteckt. Zudem hatte er sich einen Vollbart wachsen lassen und seinen Kinnbart so zurechtgestutzt, dass er nicht mehr als Besonderheit auffiel.
»Helft mir Jakob ins Boot zu bekommen«, sagte Bruder Basilius atemlos. »Er ist verwundet und nur noch ein Schatten seiner selbst!«
»Von der Folter?« Der Schwede klang erschrocken.
»Nein, aber er fiebert und es geht ihm schlecht. Hievt ihn zuerst an Bord! Aber fasst ihn nicht am rechten Arm, denn dort hat ihn der Henker Mundt mit seinem Messer erwischt!«
Der Schwede packte Jakob am linken Arm und zog ihn mit Unterstützung des Mönches ins Boot. Dann half er Bruder Basilius den stinkenden Abwässern zu entkommen. »Zieht alles aus! Und beeilt Euch!«, drängte er Jakob und zerrte ihm die nassen, stinkenden Sachen förmlich vom Leib. Er gab ihm eine derbe Arbeitskutte, mit der Jakob sich bedecken konnte. »In einer halben Stunde ist es dunkel!«
Auch Bruder Basilius entledigte sich nun in Windeseile seiner Kleidung und zog eine ähnliche unscheinbare Kutte über, während der Schwede ihre nasse Kleidung in einen Beutel aus grobem Sackleinen stopfte.
»Legt Euch auf den Boden!«, forderte Henrik Wassmo sie nun auf.
»Wozu?«, fragte Jakob verwirrt.
»Falls jemand das Boot bemerkt, soll er nicht drei Männer, sondern nur eine Person sehen, einen Tagelöhner, der einen Haufen stinkender Felle in seinem Boot hat«, erklärte Bruder Basilius und zog Jakob zu Boden. »Atmet nur durch den Mund. Die Häute stinken nicht weniger als der Kanal!«
»Der Abdecker Kleinhans lässt herzlich grüßen!«, sagte der Schwede spöttisch und warf nun ein halbes Dutzend Rinderfelle über sie.
Das Ruderboot schaukelte bedenklich, als Henrik Wassmo über sie hinwegstieg, auf der mittleren Ruderbank Platz nahm und zu den Riemen griff. Jakob hörte, wie ein Ruder über Mauersteine schrammte und dann zugleich mit dem anderen in das Wasser eintauchte.