Der Mann, dessen Alter Jakob auf Anfang bis Mitte vierzig schätzte, ragte mit seiner hoch gewachsenen, sehnigen Gestalt aus der Menge der Tonsurierten und Kahlgeschorenen heraus. Aber auch sonst wäre er kaum zu übersehen gewesen. Zahllose Pockennarben verunstalteten sein markantes Gesicht. Ein rotbrauner Bart, der einem auf dem Kopfstehenden Dreieck glich, zierte sein kantiges Kinn. Die Farbe seiner Augen, auf die das Licht der Sturmlaterne fiel, ähnelte der von poliertem Bernstein. Und eine blonde, zerzauste Lockenflut, die auf der hohen Stirn schon etwas licht war, reichte ihm bis auf die kräftigen Schultern. Bekleidet war er mit einem schäbigen, knöchellangen Umhang aus grobem, dunkelblauem Soldatentuch. Darunter kam ein ebenso abgenutztes, buntes Flickenwams zum Vorschein sowie pechschwarze Pluderhosen aus dickem, schwerem Stoff, die in klobigen Stiefeln steckten. An seinem handbreiten Ledergürtel mit eingeritzten Verzierungen hing ein Dolch, dessen Klinge eine kunstvoll gehämmerte, kupferne Scheide umschloss.
Diese seltsame Erscheinung stach unter den Mönchen hervor wie ein schillernder Paradiesvogel in einem Schwarm von grauen Tauben. Und Jakob fragte sich unwillkürlich, was dieser Mann bloß in einem Kloster zu suchen hatte.
»Fürwahr, Bruder Anselm steht der Tod schon im Gesicht geschrieben«, sagte einer der Krankenträger mit leiser Stimme.
»Die Toren und die Weisen müssen sterben, kein Kraut und Wissen schützt vorm Scheiden«, bemerkte da der Pockennarbige gedankenvoll, als er Jakobs Blick auffing, und schaute dann den beiden Mönchen nach, die den einstigen Abt ins Haus trugen. »Die letzte Stunde bringt die letzte Fehde und oft hat sie der Feind verloren.«
Aus einem unerklärlichen Grund reagierte der Subprior ausgesprochen ungehalten. »Gebt Acht, was Ihr sagt, Schwede!«, wies er ihn brüsk zurecht. »Eure lockere Zunge ist hier fehl am Platz!«
Das Gesicht des Schweden blieb ausdruckslos, als er ungerührt und noch rätselhafter antwortete: »Sah einen Frevler einst sich üppig spreizen, der Zeder gleich, die Platz für viele Raben. Kam dann zum andern Mal vorbei und fand nichts mehr als Wüstenei.«
Liffard, der mit dem Rücken zum Subprior stand, feixte Jakob an. »Oh, er kennt den Psalter wie kein anderer, der Schwede! Er hat die Psalme all hier oben drin gesammelt.« Dabei tippte er sich an die Stirn. »Da pickt er die klugen Zeilen so mühelos heraus wie Bruder Chrysostomus die Gründlinge aus unserem Fischteich!«
Sichtlich ergrimmt über die Antwort des Schweden, runzelte Bruder Tarzisius die Stirn und schien schon eine scharfe Erwiderung auf der Zunge zu haben, machte dann aber nur eine knappe Handbewegung, als wollte er die Worte dieses Mannes wie eine lästige Fliege wegwischen, und wandte sich Jakob zu.
»Wer seid Ihr, junger Mann?«, fragte er, die Stimme nun wieder sanft wie Öl. »Wem haben wir es zu verdanken, dass Bruder Anselm in solch einer stürmischen Nacht noch zu uns gefunden hat?«
Am liebsten hätte Jakob dem Subprior geantwortet, dass der alte Abt schon seit dem gestrigen Tag nicht mehr in der Lage gewesen sei auch nur vom Karren bis zum nächsten Baum zu finden. Das Finden dieser elendig abgelegenen Abtei bei Sturm und Nacht hatte er ganz allein besorgt, auf Kosten seiner Knochen, und er hoffe, so drängte es ihn zu sagen, dass sich seine Strapazen nun auch, wie hoch und heilig versprochen, in klingender Münze auszahlen würden.
Doch nichts davon kam ihm über die Lippen. Er zog nur den alten Filzhut mit der eingerissenen Krempe vom Kopf und sagte respektvolclass="underline" »Jakob ist mein Name, ehrwürdiger Bruder Jakob Tillmann. Freier Fuhrmann aus dem Rheinischen.« Was nicht ganz der Wahrheit entsprach, aber eben auch nicht ganz gelogen war.
»Und was verbindet Euch mit Bruder Anselm von Picoll?«, wollte der Subprior wissen, während der Schwede im Dunkel des Türbogens verschwand.
Nun wallte Unmut in Jakob auf. Was sollten all diese Fragen? Hatte das nicht Zeit bis später? Und so platzte er in seinem Groll heraus: »Zuerst einmal, dass ich nass bis auf die Haut bin und in dieser Nacht lange genug Wind und Wetter über mich ergehen ließ!«
Bruder Tarzisius musterte ihn einen kurzen Moment lang mit scharfem Blick. Dann glättete sich seine Miene und ein nachsichtiges Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Natürlich, ich verstehe. Verzeiht meine Gedankenlosigkeit, junger Mann. Die tiefe Sorge um Bruder Anselm ließ mich das Nächstliegende einen Moment lang vergessen. Kommt, tretet ein und seid willkommen in unserem Haus, Jakob Tillmann aus dem Rheinischen.«
Jakob lächelte. Diesen Ton ließ er sich schon eher gefallen!
Der Subprior sah ihn mahnend an, als er über die Schwelle trat. Jakob wusste nicht, was er von ihm wollte, bis Bruder Tarzisius ungeduldig auf das Gefäß mit Weihwasser deutete, das gleich vorn im Vestibül an der Wand angebracht war.
»Vergesst nicht, Gottes Segen zu erbitten!«, sagte der Subprior streng, während sich die bärtigen Kahlköpfe zurückzogen und durch eine Seitentür verschwanden.
Beinahe hätte Jakob gleichgültig mit den Achseln gezuckt, vermochte diese Regung jedoch noch im letzten Moment zu unterdrücken. Dies war nicht der Gutshof von Quirin Schlehenbusch, der es nicht mit der heiligen Mutter Kirche gehabt und Gott für einen fernen Herrscher gehalten hatte, der seiner Schöpfung längst überdrüssig geworden war und sie den dunklen Mächten dieser Welt willig überlassen hatte. Und hatte Quirin, der kauzige Alchimist und Besitzer zweier Pulvermühlen, ihn nicht mehr als einmal grob zurechtgestaucht und ermahnt: »Wer aus fremden Krügen trinkt, hat seine Klage über den verpanschten Wein gefälligst mit hinunterzuschlucken!« Und so tauchte nun Jakob seinen Mittelfinger in das eisige Wasser und schlug das Kreuz. Es war befremdend, dieses alte Ritual nach so vielen Jahren wieder zu vollziehen, und zugleich doch auch seltsam vertraut.
Bruder Tarzisius nickte zufrieden, fasste ihn am Arm und führte ihn weiter. Von einem halben Dutzend Mönchen begleitet, gingen sie im Licht flackernder Kerzen einen kurzen, dunklen Gang hinunter, um bald darauf einen großen Raum zu betreten, bei dem es sich zweifellos um die Küche der Abtei handelte. Schon der Geruch von kalter Asche und gebratenem Fisch verriet Jakob die Nutzung dieses Gewölbes, noch bevor eine zweite Lampe entzündet war und genug Licht verbreitete, dass er sich umsehen konnte.
»Macht ein Feuer und tischt dem guten Mann etwas Warmes auf, Bruder Isenbard!«, trug der Subprior einem kleinen, kahlköpfigen Mönch auf, der mit einer dicken Knollennase und lebhaften Augen sowie überaus üppigem Haarwuchs in Nase und Ohren gestraft war. Jakob bedeutete er, sich an den schweren Küchentisch zu setzen, der so groß und massiv gebaut war, dass man einen Ochsen auf ihm zerlegen konnte. »Lasst es Euch schmecken, Jakob Tillmann. Wir reden später miteinander. Jetzt muss ich erst sehen, wie es dem armen Bruder Anselm geht. Möge uns der Herr die große Huld erweisen ihn nicht schon in dieser Nacht zu sich zu rufen!« Damit eilte er aus der Küche.
Von wegen »Lasst es Euch schmecken!«, dachte Jakob voller Ingrimm, als ihm Bruder Isenbard wenig später eine tiefe Holzschüssel mit pampiger Haferschleimsuppe vorsetzte und einen gerade mal zwei Finger breiten Kanten altbackenes Brot dazulegte. Das Feuer, dass der Mönch in der Herdstelle entfacht hatte, war von so armseliger Natur, dass die müden Flammen noch nicht einmal den Topf mit der Suppe richtig erhitzt, geschweige denn einen Hauch von Wärme in den kalten Küchenraum gebracht hatten. Die Kleider klebten ihm nass und so kalt am Leib, dass er meinte für den Rest seines Lebens nicht wieder richtig warm zu werden. Warum konnte der Ordensmann nicht mehr Barmherzigkeit zeigen und einen ganzen Arm voll Holzscheite aus dem großen Feuerkasten nehmen und auf die Glut aufschichten? Wie sehr verlangte es ihn nach einem prasselnden Feuer, dessen Hitze ihm die Haut versengte und die Eiseskälte aus seinem Körper trieb!