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Mit zittrigen Beinen stand Jakob gegen die Seitenwand des Fuhrwerks gelehnt und sah sich um. Sie befanden sich in einem engen Hinterhof, in dem man einen Pferdewagen wohl nur mit großer Mühe wenden konnte. Umschlossen wurde der Hof von einer hohen Mauer sowie an zwei Seiten von den Rückfronten einfacher Fachwerkhäuser. Das Gasthaus mit dem roten Ziegeldach machte seinem Namen alle Ehre, wie Jakob fand, sah es doch genauso gedrungen und klobig aus wie ein Ochse.

Er spürte, dass ihm schwindelig wurde. »Ich glaube, ich. ich kann keinen Schritt mehr tun«, murmelte er, während ihm die Sinne schwanden.

»Henrik, fass mit an!«

Bevor Jakob wusste, wie ihm geschah, hatten Bruder Basilius und der Schwede ihn gepackt und trugen ihn die hölzerne Treppe hoch, die außen am Haus zu den oberen Geschossen führte.

Auf dem Dachboden war es stockdunkel. Es roch nach Wein und Holz und altem Sackleinen. Bruder Basilius und der Schwede fanden den Weg auch ohne Licht. Als sie Jakob auf ein schon vorbereitetes Strohlager legten, durchfuhr ihn ein wilder Schmerz und er verlor endgültig das Bewusstsein.

Achtzehntes Kapitel

Tausende von Staubkörnern tanzten im Sonnenlicht, das am Giebelfenster in drei schmalen, scharf begrenzten Streifen durch die Ritzen der Schlagläden auf den Dachboden fiel.

Jakob blickte schläfrig zu den hellen Lichtbahnen auf und erinnerte sich wilder Träume. Er wollte sie festhalten, sich ihre Bilder ins Gedächtnis zurückrufen. Doch sie entzogen sich seinem Zugriff und verwehten wie Rauch im Wind.

Er brauchte eine Weile, bis die Benommenheit von ihm wich und er wieder wusste, was ihm widerfahren war und wo er sich befand. Ihn schauderte, als er an die Folterkammer, den messergespickten Schacht unter der Eisernen Jungfrau und den betäubenden Gestank des Abwasserkanals dachte. Doch sie waren den Bluthunden des Domherrn entkommen und er lag nun auf dem Dachboden des Gasthauses Zum Roten Ochsen! Und das war ein kleines Wunder.

Der Schmerz in Arm und Schulter brachte ihm seine Verletzung ins Bewusstsein zurück. Ihm war heiß und sein Mund fühlte sich wie ein in der Sonne ausgedörrter Lappen an. Er fuhr sich mit der Hand über sein Gesicht, das mit Schweiß bedeckt war. Dann nahm er die leise Stimme in seiner Nähe wahr. Er wandte den Kopf nach rechts und erblickte Bruder Basilius. Der Mönch kniete auf dem Boden und betete. Einer der Lichtstreifen fiel quer über seinen Rücken und nahm sich auf der Kutte wie eine goldene Schärpe aus.

»Ich hoffe. Ihr bittet Gott um einen ganzen Haufen wundersamer Gefälligkeiten. Und ich hoffe. Ihr findet dabei auch den richtigen Ton, damit er sich herablässt. sie uns auch zu gewähren«, sagte Jakob leise und er wunderte sich, dass ihm das Sprechen so viel Mühe bereitete.

Der Mönch hielt augenblicklich in seinem Gebet inne, bekreuzigte sich und begab sich an Jakobs linke Seite. Er strahlte förmlich. Und zum ersten Mal wurde sich Jakob der Sanftmut seiner Züge und der Güte bewusst, die im Blick seines gesunden Auges lag. Er empfand diese Augenklappe seltsamerweise gar nicht mehr als entstellend, wie er noch in Himmerod gedacht hatte. Es war das vertraute Gesicht des Mannes, dem er seine Rettung verdankte - und zu dem er ein tiefes, geradezu blindes Vertrauen gefasst hatte.

»Dem Allmächtigen sei Dank, Ihr seid endlich wieder bei Bewusstsein!«, rief Bruder Basilius erleichtert. »Ihr werdet sicherlich großen Durst haben. Die feuchten Tücher und die paar Tropfen, die ich Euch einflößen konnte, haben ja kaum mit Eurem Ausschwitzen Schritt halten können. Kommt, trinkt, damit Eure Lebenssäfte wieder zu ihrem gesunden Gleichgewicht zurückfinden!« Er legte Jakob seinen rechten Arm um den Nacken und half ihm sich etwas aufzurichten, während er ihm mit der linken Hand einen Steinbecher an die Lippen führte.

Gierig trank Jakob die nach Kräutertee schmeckende Flüssigkeit. Ohne einmal innezuhalten, leerte er den irdenen Becher, so durstig war er. Dann sank er mit einem dankbaren Aufseufzen wieder ermattet auf sein Strohlager zurück, als hätte er eine besonders anstrengende körperliche Leistung hinter sich gebracht.

Der Mönch stellte den Becher weg und machte ein ernstes Gesicht. »Ihr habt uns große Sorgen bereitet, Jakob. An jenem Abend, als wir Euch hierher auf den Dachboden des Roten Ochsen brachten, hattet Ihr schon das Bewusstsein verloren, bevor ich Eure Wunde öffnen und...«

Jakob stutzte. »Was heißt >an jenem Abend<? Das war doch gestern, nicht wahr?«

Bruder Basilius schüttelte den Kopf. »Oh nein, der Abend unserer Flucht liegt mittlerweile schon dreieinhalb Tage zurück, Jakob!«, eröffnete er ihm. »Dreieinhalb Tage, in denen Ihr mit hohem Fieber gekämpft und um Euer Leben gerungen habt. Ihr wart kraftlos von Eurer Flucht durch die winterliche Eifel und Euer Arm sah böse aus, schrecklich geschwollen und vereitert. Das schlechte Blut hat Euch ein lebensgefährliches Fieber beschert. Wenn die Wunde nicht so weit oben an der Schulter gewesen wäre, hätte ich wohl nicht gezögert Euren Arm zu amputieren.«

Jakob sah ihn in wortlosem Erschrecken an.

Der Mönch nickte nachdrücklich. »Ja, so schlecht war es um Euch bestellt! Ich habe schon am Wert meiner bescheidenen Heilkunst und an der Kraft meiner Salben und Tinkturen gezweifelt. Doch letzte Nacht sank dann Euer Fieber endlich und nun seid Ihr auf dem Weg der Genesung, dem Himmel sei Dank!«

»Ich ziehe es vor, Euch und dem Schweden zu danken, die Ihr Euch um mich gekümmert und mich gepflegt habt«, sagte Jakob, noch ganz bestürzt, dass er dem Tod so nahe gewesen war und fast vier Tage in fiebriger Betäubung verbracht hatte. »Vermutlich habt Ihr auch fleißig für meine Genesung gebetet. Als Mönch wird man bei Gott ja wohl eher gehört, als wenn unsereins um etwas bittet.

Jedenfalls sind meine Bitten nie erhört worden.«

»Gewiss, ich habe auch für Eure Genesung gebetet«, sagte Bruder Basilius, ohne gekränkt zu sein. »Aber das Gebet ist nicht ein zielgerichtetes Bitten um etwas. So wie Gott auch kein Krämer ist, zu dem man mit einer Liste all jener Dinge geht, die man einkaufen will - und den man auch nur dann aufsucht, wenn man dringend etwas braucht.« Er machte eine kurze Pause. »Gott ist nicht der Lückenbüßer unserer Enttäuschungen, dem ich mich nur dann zuwende, wenn ich etwas benötige, was ich mir selbst nicht beschaffen kann. Gott ist der Grund einer unzerstörbaren Hoffnung.«

»So. Und was ist dann wahres Gebet?«, fragte Jakob herausfordernd.

»Es ist eine Sehnsucht der Seele, Jakob, und die Pflege der Beziehung zu Gott«, antwortete der Mönch ruhig. »Das Gebet ist wie Atemholen, ist Freiheit, unermüdliches Zwiegespräch, stille Anbetung - und vor allem Liebe. Beten ist Leben. Und echtes Gebet ist immer getragen von den Vaterunserbitten >Dein Reich komme< und >Dein Wille geschehe<. Beten ist das Einfachste von der Welt - aber auch das Schwerste, weil der Mensch so schwer von seinen egoistischen Wünschen und Forderungen an das Leben und damit auch an Gott loslassen kann.«

»Na, ich habe mit Beten jedenfalls nicht viel Glück gehabt«, versuchte Jakob unbekümmert darüber hinwegzugehen. Denn mit diesen schwergewichtigen geistlichen Dingen wollte er sich nicht belasten.

»Das mag eine Folge von dem Bild sein, das Ihr Euch von Gott gemacht habt.«

»Was für ein Bild?«

»Unser Beten hängt nun mal wesentlich von unserem Gottesbild ab«, erklärte Bruder Basilius geduldig. »Gar zu viele Christen wachsen leider über ein dürftiges und einseitiges Bild von Gott, das sich in ihrer Kindheit in ihnen festgesetzt hat, nicht hinaus. Sie bleiben daher für den Rest ihres Lebens buchstäblich kindlich, oft sogar kindisch in ihrem Gottesglauben. Und dementsprechend dürftig und im Grunde selbstbezogen ist dann auch ihr Gebet, das nie über ein Gespräch mit sich selbst, ein Geplapper hinauswächst. Ihr Beten ist dann keine Hingabe, keine Freiheit und keine Liebe, sondern ein angstvolles, gequältes und letztlich bitter enttäuschtes Flehen und Hadern.«