Jakob verzog reumütig das Gesicht. »Ich weiß, ich weiß, wir sitzen noch immer in der Falle und Ihr hängt mit drin, weil Ihr mir geholfen habt.«
Bruder Basilius schmunzelte. »Ich bin einmal mit Henrik nach Jerusalem gepilgert und das Großartigste, was ich auf dieser Reise gelernt habe, ist: Das Heilige Land ist überall«, sagte er scheinbar ohne jeden Zusammenhang. »Oder um Ignatius von Loyola zu zitie-ren: >Man muss sich bewusst sein, dass der Mensch Gott nicht nur dann dient, wenn er betet.< Auch ich habe das erst lernen müssen.«
Jakob runzelte die Stirn. »Wollt Ihr damit sagen, dass Ihr das, was Ihr für mich getan habt und tut, mit Gebet und Gottesdienst gleichsetzt?«
»Wo der Mensch sein Leben als Dienst Gottes versteht, gibt es keinen Bruch mehr zwischen Gebet und Arbeit«, bestätigte der Mönch.
Henrik Wassmo nickte und bemerkte trocken, während ein dünner Holzspan von seinem Messer flog: »Allein die Narren machen Ernst.«
Jakob lachte. »Nun müsst Ihr mir aber endlich erzählen, wie Ihr und der Schwede zusammengekommen seid, Bruder Basilius! Ihr habt es mir versprochen!«
Der Mönch machte ein nicht gerade glückliches Gesicht und schien sich davor drücken zu wollen. Henrik Wassmo lächelte hingegen still vor sich hin und tat, als ginge ihn Jakobs Anliegen nichts an.
Bruder Basilius seufzte. »Also gut, Ihr sollt Euren Willen haben, Fuhrmann Jakob Tillmann aus dem Rheinischen.« Gutmütiger Spott lag in seiner Anrede, so als wollte er Jakob ganz nebenbei wissen lassen, dass er sich so leicht keinen Sand in die Augen streuen ließ.
Jakob zuckte nicht mit der Wimper. Er stellte den Holzteller neben sich auf den Boden und zog sich in freudiger Erwartung die warme Decke bis zum Kinn hoch. »Wo und wann seid Ihr Euch das erste Mal begegnet?«, fragte er gespannt.
»Wir standen uns auf dem Schlachtfeld von Lützen, das ist nahe bei Halle und Leipzig, als Feinde gegenüber«, begann der Mönch. »Es war am 6. November 1632, als der Dreißigjährige Krieg schon fast fünfzehn Jahre Tod und Verderben über Europa gebracht hatte. Henrik stand als Kanonier in den Reihen der protestantischen Heere, die König Gustav Adolf von Schweden in die Schlacht führte. Ich ritt unter dem Banner der katholischen Liga in das Gemetzel.«
Die Überraschung hätte für Jakob nicht größer ausfallen können. »Ihr habt einmal den Waffenrock getragen?«
Bruder Basilius machte ein betrübtes Gesicht. »Ja, es hat einmal eine Zeit in meinem Leben gegeben, da glaubte ich tatsächlich an den Ruhm und die Ehre, die man angeblich im Kampf mit der Waffe in der Hand erringen kann.«
»Ihr kommt aus einem vornehmen Haus, nicht wahr?« Diese Vermutung hatte Jakob schon seit langem.
Bruder Basilius antwortete darauf mit einem knappen Nicken. »Welcher Familie ich entstamme, soll Euch nicht weiter interessieren. Ein Mönch, der mit dem Namen und der Macht seiner Familie prahlt, ist ein bedauernswerter Mönch.«
Jakob lächelte. Ihm genügte es zu wissen, dass der Mönch aus einem vornehmen Haus kam, womöglich sogar aus Trier oder von einer der wehrhaften Burgen der Eifel.
»Ich wuchs jedenfalls in der gut genährten Überzeugung auf, als Katholik den einzig wahren christlichen Glauben zu besitzen und damit das Recht zu haben im Namen meines Gottes andere Menschen töten zu dürfen, ja töten zu müssen, die nicht bereit waren sich zu diesem Glauben zu bekennen. Und mit dieser alttestamentarischen Überzeugung sowie der flammenden Begeisterung im Feld für mich und meine Familie Ruhm zu erstreiten, zog ich in den Krieg.« Er machte eine gedankenschwere Pause. »Doch schon nach der ersten Schlacht, die im wahrsten Sinne des Wortes eine grauenvolle Schlächterei war, geriet meine scheinbar so festgefügte Welt ins Wanken. Wenn man durch Blut watet, vorbei an hunderten von zerfetzten, hingeschlachteten Soldaten, dann können nur ganz einfältige und ganz hochmütige und grausame Menschen noch an Ruhm und Ehre glauben - und solch ein Gemetzel für einen verdienstvollen Kampf zum Ruhme Gottes halten.«
Jakob spürte, wie bewegt der Mönch innerlich war, als er sich die Erfahrungen seiner Jugend nun wieder in Erinnerung rief. Er selbst empfand Beklommenheit, dass er ihn dazu gebracht hatte, die Tore zu diesen dunklen Verliesen seiner Vergangenheit wieder zu öffnen. Manche Türen, die in dunkle Gemächer der eigenen Lebensgeschichte führten, ließ man besser fest verschlossen, wie er nur zu gut wusste.
»Die schlimmen Färber Scham und Schande bemalen wechselweise uns bleich und rot«, murmelte Henrik Wassmo, der zu schnitzen aufgehört hatte und gedankenverloren auf der Kiste saß, so als hätte auch ihn die Vergangenheit wieder eingeholt.
»Ja, Scham und Schande«, griff Bruder Basilius die Worte des Schweden auf. »Wären mein Stolz und meine Feigheit nicht so groß gewesen, sie hätten mich schon viele Jahre früher dazu aufrütteln können, den Waffenrock abzulegen und dem inneren Ruf zu folgen, der nach Umkehr verlangte. Doch erst nach der fürchterlichen Schlacht von Lützen, in der auch der schwedische König fiel und die mit der Niederlage der protestantischen Heere endete, fand ich den Mut zur radikalen Umkehr. Ich erkannte meine persönliche Schuld und Niederlage angesichts eines angeblich großen Sieges zum Ruhme Gottes.«
»Und wo kommt Henrik ins Spiel?«, wollte Jakob wissen.
»Es war nach der Schlacht: Der trunkene Siegestaumel meiner Kameraden stieß mich ab und ich entfloh ihm, indem ich auf das Schlachtfeld zurückkehrte. Irgendetwas zog mich an den Ort dieses grauenvollen Gemetzels zurück. Niemals werde ich das Schreien und Wimmern, das Stöhnen, Fluchen und Beten der Verwundeten und Sterbenden vergessen«, fuhr der Mönch mit leiser Stimme fort. »Und dann stieß ich auf einen namenlosen Schweden, der schwer verwundet neben einem zerstörten Geschütz lag. Er flehte einen von unseren Soldaten, die verwundete und tote Feinde schamlos plünderten, inständig an ihn von seinen Schmerzen zu erlösen und ihn zu töten. Und dieser Soldat hatte schon das Bajonett erhoben, als ich ihm in den Arm fiel und mich dieses Schweden, den man mich zu hassen gelehrt hatte, annahm.«
Jakob erinnerte sich sofort wieder der rätselhaften Antwort, die ihm der Schwede in Himmerod auf die Frage gegeben hatte, wie ein Mönch bloß zu einem Begleiter wie ihm käme. Die Antwort, bestimmt aus Psalmversen zusammengesetzt, hatte ihm so geheimnisvoll geklungen, dass er sie sich in jenen Tagen mehrfach wiederholt, darüber nachgegrübelt und sie so im Kopf behalten hatte: Ich wollte nichts wissen von göttlichen Zeichen, auf fremden Gefilden, in Pharaos Land... Paladine und Herren in Eisen, Gottes Glorie und Ruhm im Munde, das doppelschneidige Schwert in den Händen - so streuten wir das Saatkorn des Leids... Blut floss wie Regenwasser durch die Gosse und keiner mochte Totengräber sein... Er aber kam, entriss mich dem Rachen des Löwen und mein Herz hielt an ihm fest.
»Bei Kedars schwarzen Zelten, ich wäre an meinen Verletzungen elendig krepiert! Doch er hat mich vom Feld getragen und sein Leben riskiert, um meines zu retten!«, sagte Henrik Wassmo mit großem Nachdruck. »Er nahm den Rabenmantel der Finsternis von mir und.«
»Wer hat Euch denn aufgefordert die Geschichte weiterzuerzählen?«, fiel Bruder Basilius ihm ins Wort.
Der Schwede neigte scheinbar demütig den Kopf, aber doch mit dem Anflug eines spöttischen Lächelns auf den Lippen, und erwiderte: »Zu Psalmen sind mir deine Worte geworden im Hause meiner Pilgerschaft!«
Bruder Basilius seufzte geplagt und schüttelte den Kopf. »Das mit den Psalmen habe ich mir wohl selber zuzuschreiben. Denn ich war es, der ihm den Psalter in die Hand drückte, als ich herausfand, dass er des Lesens und Schreibens kundig war. So hoch ich den Psalter verehre, so habe ich doch schon oft gewünscht, ich hätte damals eine andere Lektüre für ihn gefunden. Aber der Psalter war das einzige Buch, das ich auftreiben konnte. Und er hat es in den vielen Monaten seiner langsamen Genesung immer und immer wieder gelesen, bis er nicht nur unsere Sprache fließend beherrschte, sondern gleichzeitig auch noch alle Psalme auswendig kannte. In dieser Zeit hat er es sich zur lästigen Angewohnheit gemacht, seine Rede mit Psalmversen zu spicken.«