Henrik Wassmo grinste und antwortete auf den sanften Tadel mit unerschütterlicher Ruhe: »Ich habe meinen Weg bedacht, nach deinen Marksteinen ausgerichtet.«
»Ja, so steht es im 119. Psalm, aber damit ist kein Herr auf Erden gemeint, sondern unser Herr im Himmel!«, brummte Bruder Basilius.
»Und dann habt Ihr Euch entschlossen den Waffenrock für immer auszuziehen, nur noch Gott zu dienen und seid ins Kloster eingetreten?«, fragte Jakob, der wissen wollte, wie es mit ihm und dem Schweden weitergegangen war.
»Ja, ich folgte endlich meiner inneren Stimme, stürzte mich in das Studium der Theologie, ließ mich zum Priester weihen und legte die ewigen Gelübde ab.«
»Und wo war Henrik all die Zeit?«, wunderte sich Jakob. »Ich meine, er kann ja nicht mit Euch studiert haben und dann mit ins Kloster gegangen sein, oder? Denn ein Mönch wie Ihr ist er ja offensichtlich nicht geworden.«
»Auf Erden geschehen viele Dinge, die sich einer vernünftigen Erklärung entziehen. Eins davon ist sicherlich Henriks außergewöhnliche Treue«, antwortete der Mönch mit gutmütigem Spott. »Als ich ihn an jenem Novembertag schwerverletzt in unser Lager trug und mich um ärztliche Versorgung für ihn gekümmert hatte, da schwor er mir stets zu Diensten zu sein und nie mehr von meiner Seite zu weichen, sollte er seine schweren Verwundungen überleben. Ich dachte mir damals nichts dabei. Doch wundersamerweise war es ihm Ernst mit seinem Schwur - bis heute, wie Ihr seht.«
Jakob machte große Augen. »Wollt Ihr damit sagen, Henrik hat Euch in all den Jahren stets begleitet, egal, wohin Ihr gegangen seid und was Ihr getan habt?«, fragte er ungläubig.
Bruder Basilius lächelte. »Ja, das ist genau das, was geschehen ist. Er ist überzeugt davon, dass das Schicksal sein Leben mit dem meinigen unauflöslich verbunden hat. Viele Jahre wollte ich nichts davon wissen und habe nichts unversucht gelassen, um mich von seiner unerbetenen Gegenwart zu befreien. Doch was immer ich auch versucht habe, es hat nichts gefruchtet.«
»Ihr meint, er blieb wie eine Klette an Euch hängen?«
»In der Tat! Er fand stets einen Weg wenigstens in meiner Nähe zu bleiben, wo ich mich auch aufhielt. Als ich mich für ein Leben als Mönch entschied, glaubte ich mich meines zweiten Schattens ein für alle Mal entledigt zu haben. Doch ich irrte. Denn er blieb hartnäckig und legte sich jede Nacht vor die Klosterpforte, bis man ihm erlaubte eine Arbeit in der Abtei anzunehmen und wie ich innerhalb der Klostermauern zu leben. Als ich dann nach Jerusalem auf Pilgerfahrt ging, da war er sofort wieder an meiner Seite. Und eines Tages habe ich es aufgegeben mich von ihm zu lösen. Ich habe mich mit ihm abgefunden. Nach über zwanzig Jahren fällt es mir nun schwer mir vorzustellen, wie es anders hätte sein können. Und wer weiß, vielleicht ist es uns tatsächlich vorbestimmt gewesen.«
Henrik Wassmo nickte bekräftigend. »Dein Wort ist Felsengrund und Sänger und Schreiber ist meine Zunge!«
Bruder Basilius erhob sich. »So, jetzt wisst Ihr, wie Henrik und ich,. nun, wie wir zueinander gefunden haben«, sagte er, nahm den leeren Holzteller an sich und ging nach unten, um Jakob noch einen stärkenden Schlaftrunk zu holen.
Einen Augenblick herrschte Schweigen und Jakob dachte über die wundersame Geschichte nach, die der Mönch ihm aus seinem Leben erzählt hatte.
»Er ist ein Mann, der dem großen Wort misstraut und von sich allzu gering denkt, um sich selbst Gerechtigkeit widerfahren zu lassen«, brach Henrik das Schweigen. »Nie hätte er von sich erzählt, wenn Ihr ihn nicht so bedrängt hättet und er nicht bei Euch im Wort gestanden wäre.«
»Wie konnte ich denn ahnen.«, setzte Jakob zu einer Entschuldigung an.
»Das ist es nicht, was ich damit meinte, Jakob. Ihr sollt ruhig die Wahrheit erfahren, aber dann auch die ganze Wahrheit.«
»Was hat er mir denn verschwiegen?«
»Dass er ein letztes Mal zur Waffe griff und sein Leben aufs Spiel setzte, um das Leben eines namenlosen, verwundeten Feindes zu retten«, berichtete der Schwede. »Einer seiner Kameraden wollte nämlich nicht zulassen, dass er mich in ihr Lager brachte und mich von einem ihrer Ärzte behandeln lassen wollte. Aus einem hitzigen Wortgefecht wurde ein Gefecht mit der blanken Klinge. Dabei und nicht etwa im Feld zog er sich die lange Narbe im Gesicht zu und verlor sein linkes Auge.«
»Und was ist aus dem Mann geworden, der ihn herausgefordert hatte?«
»Er hat ihn noch mit blutiger Augenhöhle bezwungen, ihm den Degen aus der Hand geschlagen und ihm die Klinge an die Kehle gesetzt - um ihn dann mit dem Leben davonkommen zu lassen«, erzählte Henrik. »Das ist der Teil der Geschichte, die er unter den Tisch hat fallen lassen.«
»Ich danke Euch für Euren Freimut«, sagte Jakob, beeindruckt von dem Gehörten. Nun lösten sich viele Rätsel und sein Bild von Bruder Basilius und dem Schweden erhielt klarere Konturen.
Wenig später kam der Mönch die Stiege hoch. Er brachte einen großen Steinhumpen voll Kräutertee, der mit einem kräftigen Schuss Rum versetzt war.
»Ich glaube, es ist an der Zeit, dass auch ich mir einen Becher hochprozentiger Medizin gönne. Zudem kann es nicht schaden, wenn ich mich ein wenig umhöre, was geredet wird«, sagte Henrik spöttisch, steckte Messer und Schnitzarbeit ein und begab sich nach unten.
Jakob schlürfte das heiße Getränk und schaute dabei immer wieder über den Rand des Bechers hinweg auf den Mönch, der wieder auf der Kiste Platz genommen hatte.
»Nun sprecht schon aus, was Euch auf der Seele drückt!«, forderte Bruder Basilius ihn schließlich auf. »Ich weiß nicht, was Henrik Euch noch erzählt hat. Aber ich sehe Euch an, dass Euch eine Frage auf der Zunge brennt.«
»Ihr seid wirklich gut im Gedankenlesen.«
»Nun rückt schon mit der Sprache heraus! Was beschäftigt Euch?«
Jakob zuckte vage mit den Schultern, weil er nicht wusste, wie er seine Verwirrung in Worte fassen sollte, ohne dass es verletzend klang. »Hängt Henrik nach all den Jahren, die er Euch nun schon begleitet, noch immer seinem protestantischen Glauben an?«
»Ja, das tut er. Er ist ein treuer Anhänger der lutheranischen Reformationskirche.«
»Es ist Euch also in all den Jahren nicht gelungen ihn zu Eurem wahren Glauben zu bekehren«, stellte er fest. »Aber Ihr kommt offenbar dennoch ganz wunderbar miteinander aus, wie es den Anschein hat.«
Bruder Basilius lächelte. »Etwas, was ich erst gar nicht zu tun versucht habe, kann mir auch mitnichten gelingen.«
»Ihr habt erst gar nicht den Versuch gemacht?«, fragte Jakob verwundert.
»Nein. Wir haben sehr oft miteinander über das geredet, woran wir glauben. Aber keiner hat versucht den anderen davon zu überzeugen, dass er den christlichen Stein der Weisen in seinen Händen hält.«
»Das ist es, was ich nicht verstehe. Wie könnt Ihr auf der einen Seite von Eurem Glauben derart überzeugt sein, dass Ihr mit Eurem alten Leben radikal brecht und in ein Kloster eintretet, andererseits aber zwei Jahrzehnte in Gesellschaft eines Protestanten verbringt, ohne ihm zum wahren Glauben zu verhelfen? Denn nur durch diesen wahren Glauben, so lehrt es ja wohl die katholische Kirche, kann der Mensch doch das Heil erlangen und ins Himmelreich kommen. Wäre es da nicht Eure allerheiligste Pflicht, nicht eher zu ruhen, als bis Ihr die verirrte Seele des Schweden gerettet und wieder in den Schoß der katholischen Kirche zurückgeholt habt?«, fragte Jakob herausfordernd.
»Henrik ist kein Heide. Er glaubt wie ich aus tiefstem Herzen an Jesus Christus, an die Dreifaltigkeit und an die Jungfrau Maria, für die auch Luther stets große Verehrung gezeigt hat, und an die Auferstehung. Sein Glaube ist so stark wie der meinige. Ich mag aufgrund meines Wesens und meiner Natur meine persönlichen Vorlieben haben, zu denen ich mich auch mit Herz und Seele bekenne - so wie mir eben auch mein katholischer Glaube kostbar ist. Aber ist es letztlich nicht gleichgültig, ob ich zuerst mit dem linken oder mit dem rechten Fuß losgehe, wenn ich nur die richtige Richtung einschlage? Und heißt unsere gemeinsame Richtung nicht: der Glaube an unseren Erlöser und Heiland Jesus Christus? Also wozu sollte ich ihn noch bekehren? Dazu, dass er nicht mehr zuerst den linken Fuß nimmt, sondern wie ich den rechten?«