Das Mädchen warf ihre Fackeln schwungvoll vor sich in die Luft, machte auf den Brettern eine blitzschnelle Rolle vorwärts, sprang auf- und sollte die lodernden Fackeln nun wieder auffangen. Bei der einen gelang es ihr auch. Doch ihre linke Hand verfehlte den richtigen Zeitpunkt oder die richtige Stellung. Auf jeden Fall fiel das geriffelte Ende der Fackel nicht in ihre geöffnete Hand, sondern sie stieß mit den Fingerspitzen gegen den Holzstab - und schleuderte die Fackel damit von sich.
Die brennende Fackel flog von der Bühne, traf Jakob vor die Brust und fiel neben ihm auf einen Stoß Decken und Tücher, die dort auf der Treppe des Kastenwagens für eine andere Nummer bereitlagen. Sofort fingen sie Feuer, als sie mit dem lodernden Pech in Berührung kamen.
Jakob reagierte, ohne zu überlegen. Mit der einen Hand riss er die Fackel hoch, während er mit der anderen die brennenden Tücher von der Treppe fegte. Er hörte wütende und aufgeregte Schreie und versuchte die Flammen auszutreten. Im nächsten Moment waren andere Männer zur Stelle und halfen ihm. Dann klatschte ein Eimer Wasser in die Flammen - und über Jakobs Füße.
»Danke für Euer beherztes und schnelles Eingreifen. Margas Fehler hätte schwer ins Auge gehen können!«, sagte einer der Artisten und nahm ihm die Fackel ab.
»Gern geschehen«, antwortete Jakob, während sein Blick das Mädchen suchte, deren Namen Marga war. Er sah gerade noch, wie ein hoch gewachsener Mann mit einem dichten, schwarzen Schnurrbart ihr eine schallende Ohrfeige gab, was die Zuschauer mit schadenfrohem Gelächter und Gejohle bedachten, und sie mit einer wütenden Gebärde von der Bühne stieß. Augenblicklich verschwand das Mädchen zwischen den Wagen, die hinter der Bühne standen. Sie tauchte nicht wieder auf.
Jakob trieb sich noch eine Weile zwischen den Zelten, Ständen und Bretterbühnen der Zigeuner und Schausteller herum. Dann setzte er seinen Streifzug durch die Stadt fort. Er wollte unbedingt einen Blick auf das kurfürstliche Palais sowie auf die uralten römischen Thermen und das Amphitheater werfen, von dem Bruder Basilius ihm erzählt hatte. Auch die gewaltigen Stadttore wie die Porta Nigra wollte er sich gern anschauen. Vieles reizte seine Neugier, war es doch das erste Mal, dass er sich in einer so großen Stadt befand. Zudem genoss er es, nach den langen Tagen auf dem düsteren Dachboden sich frei bewegen zu können und bei frühlingshaft milder Luft unter einem sonnigen Himmel durch die Straßen zu schlendern. Mit großem Interesse beobachtete er das lebhafte Treiben auf den Straßen, wunderte sich über manches und vergaß ganz und gar, welche Gefahren in den Mauern von Trier auf ihn lauerten.
Als er einer Straße folgte, die einen fast halbkreisförmigen Bogen vollführte, fiel ihm plötzlich eine Kutsche ins Auge, die keine zehn Schritte entfernt vor einem Patrizierhaus stand. Die rubinrote Lackierung und das pechschwarze Gespann machten, auch ohne das Wappen auf dem Schlag, jede Verwechslung unmöglich: Bei diesem Gefährt handelte es sich um die erzbischöfliche Kutsche, mit der Domherr von Drolshagen nach Himmerod gekommen war!
Jakob blieb jäh, wie gegen eine unsichtbare Wand gelaufen, stehen. Die unbeschwerte Freude an seinem Streifzug fiel augenblicklich in sich zusammen und machte ernüchternder Beklemmung Platz. Die Folterkammer im Turm des Greven tauchte vor seinem geistigen Auge auf und erinnerte ihn daran, was ihn erwartete, wenn er dessen Häschern in die Hände fiel. Und dann würden der Domherr und der Henker jede Chance für eine erneute Flucht von vornherein zunichte machen. Sie würden ihn foltern, bis.
Er führte den schrecklichen Gedanken nicht zu Ende. Denn in diesem Moment trat eine Gestalt aus dem Schatten der Bogengänge und sprach ihn an.
»Seid Ihr es. oder seid Ihr es nicht?« Unsicherheit sprach aus der Stimme des Mannes.
Jakob fuhr erschrocken herum - und starrte in das Gesicht des Sekretärs Laurentis Coppeldiek!
Einundzwanzigstes Kapitel
»Natürlich! Ihr seid es wirklich, der entflohene Fuhrmann Jakob Tillmann!«, rief Laurentis Coppeldiek. »Und Ihr treibt Euch frech in Trier herum!«
Jakob wusste instinktiv, dass ihn kopflose Flucht ins Verderben führen würde. Er musste verhindern, dass Coppeldiek in der Nähe der erzbischöflichen Kutsche Alarm schlug. Und mit einem Satz war er bei ihm.
»Mein lieber Laurentis! Was für eine wunderbare Überraschung, Euch nach so langer Zeit wieder zu sehen!«, rief er, indem er ihn überschwänglich umarmte und dabei wieder zurück unter den Bogengang drängte. Damit überrumpelte er den Sekretär derart, dass dieser weder in Wort noch in Tat Widerstand leistete. Und sowie sie sich außer Sicht der Kutsche befanden, war es dafür schon zu spät. Denn Jakob legte ihm seine linke Hand blitzschnell um die Kehle und presste ihm die Luft ab. Gleichzeitig rammte er ihm seinen gestreckten Zeigefinger in die Seite. »Wenn Ihr schreit, steche ich Euch wie ein Schwein ab!«, drohte er.
Seine Rechnung ging auf. Laurentis Coppeldiek erbleichte und Angst trat in seine Augen. »Wenn Ihr. mir etwas antut, wird man Euch hängen, rädern und vierteilen!«, stieß er hervor. »Und. Eure Reste wird man den Raben. zum Fraß überlassen!«
»Mehr als einmal sterben geht nicht, Büttel!«, zischte Jakob. »Außerdem habe ich nichts zu verlieren, wie Ihr sehr wohl wisst! Ob ich Euch nun die Eingeweide aus dem Leib schneide oder nicht, Euer skrupelloser Domherr wird mich auf die Folter spannen, bis kein Leben mehr in mir ist. Also warum soll ich mich nicht ein wenig revanchieren, indem ich dafür sorge, dass er sich nach einem neuen Schreiber umsehen muss?«
Laurentis Coppeldiek quollen vor Angst fast die Augen aus den Höhlen. »Heiliger St. Gangolf, macht Euch nicht unglücklich!«, keuchte er. »Ihr bringt Euch um Euer Seelenheil, wenn Ihr.«
»Haltet das Maul!«, fuhr Jakob ihn schroff an. »Wenn ich Euch nicht aufschneiden soll, tut Ihr besser, was ich sage! Ihr kommt mit mir, ohne dass Ihr einen Ton von Euch gebt oder Euch verdächtig benehmt. Wenn Ihr schreit oder wegzurennen versucht, bekommt Ihr meine Klinge zu schmecken, habt Ihr verstanden?«
Laurentis Coppeldiek brachte nur ein krächzendes »Ja!« heraus.
Jakob nahm seine Hand von der Kehle des Sekretärs. »Ihr geht vor mir her, aber schön langsam!«, forderte er ihn auf und fragte sich voller Bangen, wie lange der Schreiber wohl auf seine Täuschung hereinfallen würde. »Aber ohne Hast! Und nun macht schon!«
Mit steifen, hölzernen Bewegungen setzte sich Coppeldiek in Bewegung. Jakob dirigierte ihn in die Richtung, aus der er gekommen war. Sein Herz klopfte mindestens so schnell wie das des Sekretärs. Wenn er wenigstens bis zum Dom und der Liebfrauenkirche oder gar bis jenseits des Marktplatzes kam. Dann hatte er eine gute Chance.
Ein klobiges Ochsenfuhrwerk, das Basaltblöcke für einen Steinmetz geladen hatte, rumpelte an ihnen vorbei. Und mit einer katzenhaften Behändigkeit, die Jakob dem Sekretär nicht zugetraut hätte, griff Coppeldiek nach der niedrigen Seitenwand, hechtete nach vorn, um dem vermeintlichen Messer in seinem Rücken zu entkommen, und sprang hinter die Blöcke auf die Ladefläche. Und sowie er in Sicherheit war, schrie er mit gellender, sich überschlagender Stimme, aus der noch immer Angst, aber auch schon Triumph sprach: »Haltet den Mann dort!. Haltet den Verbrecher!. Er wird gesucht!. Auf seinen Kopf ist eine Belohnung ausgesetzt!« Dabei gestikulierte er wild und wies auf Jakob. »Er hat ein Messer und wollte mich abstechen! Haltet ihn! Zehn Taler dem, der ihn überwältigt! Ihm nach, Männer!«
Jakob rannte schon, kaum dass Laurentis Coppeldiek ihm entkommen war und auf dem Fuhrwerk hinter den Basaltsteinen Schutz gesucht hatte. Er lief so schnell er konnte. Ein hastiger Blick über die Schulter bestätigte seine Befürchtung, dass mehrere Männer, die sich dort auf der Straße aufgehalten hatten, ihn verfolgten. Zwei Männer, deren abgerissene Kleidung sie als Tagelöhner auswies, waren ihm besonders dicht auf den Fersen. Was bei einer Belohnung von zehn Talern kein Wunder war. Die Aussicht auf solch einen Batzen Geld machte schnelle Beine.