»Und von dort aus reiten wir wohin?«
»In einem weiten Bogen, der uns erst einmal ein gutes Stück von Trier und der Mosel wegführt, über die Wirtschaftshöfe Schwicke-rath, Wirft, Rodenbusch und Dernau nach Koblenz!«, teilte Bruder Basilius ihm mit.
»Warum wählt Ihr eine Route, die uns über die Himmeroder Wirtschaftsgüter führt?«, wunderte sich Jakob.
»Weil ich die Verwalter auf diesen Höfen kenne und auf ihr Stillschweigen bauen kann. Bruder Tarzisius hat mehr Macht in Himmerod, als ihm eigentlich zusteht. Auf ihn und seinesgleichen trifft die Forderung des heiligen Ignatius von Loyola zu, die da heißt: >Für eine Prälatur soll rechtlich unfähig und untauglich sein, wem man nachweisen kann, dass er sie angestrebt hat!< Wer sich zu Macht und Ämtern drängt, sollte wahrhaftig von ihnen ausgeschlossen sein! Denn Männer wie der Subprior und der Domherr missbrauchen die Kirche und Gottes Namen für ihre persönlichen Machtgelüste«, erklärte er mit unverhohlenem Ingrimm. »Aber auch wenn Bruder Tarzisius ein Günstling der erzbischöflichen Kurie ist und in der Abtei viel Macht an sich gerissen hat, so bedeutet das noch lange nicht, dass er bei seinen Mitbrüdern beliebt ist. Auf jeden Fall fällt es weniger auf, wenn wir die Pferde auf einem der Himmeroder Wirtschaftshöfe kaufen, wo ich mich des Stillschweigens des Verwalters und seiner Männer sicher weiß, als auf einem fremden Hof, wo wir Neugier wecken und zu Gerede Anlass geben würden. Gerede, das früher oder später an die Ohren unserer Verfolger dringen dürfte.«
»Sind wir denn in Koblenz vor den Nachstellungen des Domherrn sicher?«, fragte Jakob hoffnungsvoll.
»Nein, sicher werden wir nirgends sein, solange von Drolshagen und die einflussreichen Männer hinter ihm noch Hoffnung haben die mutige Tat von Bruder Anselm auslöschen zu können, bevor sie bekannt wird und breite Wirkung erzielen kann«, antwortete der Mönch. »Aber seine Macht ist in Koblenz wesentlich geringer als in Trier, weil man sich gegenseitig nicht eben brüderlich gesonnen ist. Zudem hege ich die Hoffnung dort einen wichtigen Hinweis zu erhalten, um dem Domherrn zuvorzukommen.«
»Wem oder was wollt Ihr zuvorkommen? Ich weiß immer noch nicht, was es mit Bruder Anselm auf sich hat und weshalb von Drolshagen nicht vor Mord und Folter zurückschreckt, um zu erfahren, wo sich der ehemalige Abt die letzten Wochen seines Lebens aufgehalten hat. Meint Ihr nicht, dass es langsam an der Zeit ist mir reinen Wein einzuschenken?«, fragte Jakob.
»Nein, das meine ich nicht«, lautete die ungerührte Antwort des Mönches. »Zuerst einmal ist es an der Zeit, dass wir uns aus dem Staub machen und noch ein paar Meilen hinter uns bringen, bevor es dunkel wird.« Er warf Jakob eine Deckenrolle und einen kleinen Leinenbeutel mit Proviant zu, bevor er fortfuhr: »Wenn Ihr dann noch nicht zu müde seid Euch eine längere Geschichte anzuhören, will ich Euch meinetwegen in die Hintergründe all dieser Vorkommnisse einweihen.«
Jakob nickte mit einem zufriedenen Lächeln. »Das ist ein Wort, Bruder Basilius. Und ich werde ganz sicher nicht zu müde für Eure Geschichte sein, auch wenn wir bis in die Nacht hinein unterwegs sind!«, versicherte er.
Forschen Schrittes marschierten sie nun gen Norden. Das Moseltal lag im freundlichen Licht der späten Nachmittagssonne und kein Schnee beschwerte ihnen das Vorankommen, als sie am linksseitigen Flussufer die bewaldeten Hänge hinaufstiegen. Doch kaum hatten sie die Höhen des Ehranger Forstes erreicht, als sie in nördlichen Lagen wieder auf große Schneeflächen stießen. Dennoch gab es keinen Zweifel, dass der Frühling auch in der Eifel unwiderruflich Einzug gehalten hatte. Mutig reckten die ersten Blumen ihre Knospen der Sonne entgegen. Überall spross frisches Grün aus dem Boden und auch Büsche und Bäume begannen ihre winterkahlen Äste und Zweige mit einem neuen Blätterkleid zu schmücken, wenn auch viel zaghafter als der Wiesengrund und die Felder in den Tälern.
Jakob, Henrik und der Mönch legten sich mächtig ins Zeug, weil sie in den wenigen Stunden Tageslicht, die ihnen noch blieben, eine gute Strecke Weges zurücklegen wollten. Als die Sonne im Westen hinter den dunklen Wäldern versank, hielten sie abseits von Landstraße und Waldwegen Ausschau nach einem geeigneten Lagerplatz für die Nacht. Sie fanden eine kleine Lichtung und ganz in der Nähe nicht nur genug Feuerholz, sondern auch eine kleine Quelle.
Sie waren vom flotten Marschieren erhitzt und durstig. Der erste Schluck frischen Quellwassers schmeckte daher ungemein köstlich. »Mein Hals brennt scherbentrocken, die Zunge klebt am Gaumen wund!«, rief Henrik beim Anblick der Quelle und schlürfte das Wasser wie einen edlen Wein. »Oh, was für ein kostbares Nass!«
Auch Bruder Basilius stillte voller Wohlgenuss seinen Durst. Dann sagte er sinnierend: »Wenn uns etwas fehlt, wie dies Wasser etwa, dann tötet es uns. Wenn wir es im Überfluss haben, sodass wir darin ertrinken, tötet es ebenfalls. So auch mit dem Feuer und vielen anderen Gaben unseres Lebens. Ist das nicht ein wundersamer Fingerzeig unseres Schöpfers in allen Dingen Maß zu halten? Habgier, Tyrannei und Fanatismus führen früher oder später immer ins Verderben.«
Henrik pflichtete ihm bei und zitierte aus dem Psalter: »Ein Mensch, der arm im Reichtum lebt, weil er die Weisheit anderen überlässt, ja, dieser gleicht dem Tiere. Die Selbstherrlichen sind solche Armen, den Selbstgefälligen wird solches Los. Wie Schafe laufen sie zum Pferch des Todes, dem Hirten ohne Herz und Mund.«
Sie sammelten reichlich Holz im Wald zusammen und entzündeten ein Feuer gegen die zunehmende Abendkühle. Die warmen Decken um die Schultern gelegt, hockten sie am Feuer und brieten in den lodernden Flammen Kartoffeln und mehrere Streifen Fleisch. Dazu gab es körniges Brot und Quellwasser. Ein wahres Festessen, wie Jakob fand, der erst glaubte sich nicht satt essen zu können, dann aber eine seiner dicken Kartoffeln für den Morgen weglegen musste, weil er einfach nicht mehr konnte.
Längst war es Nacht geworden. Von einem klaren, fast wolkenlosen Himmel blinkten die Sterne herab, als hätte jemand planlos Myriaden von funkelnden Diamanten und leuchtenden Silberstaub über ein riesiges, samtschwarzes Seidentuch gestreut. Und wenn Henrik Holz nachwarf, dann sprühten Funken aus der Glut und schienen zu ihren fernen, kosmischen Brüdern und Schwestern aufsteigen zu wollen.
»Legen wir uns schlafen oder seid Ihr noch munter genug, um Euch eine Geschichte anzuhören, Jakob?«, fragte Bruder Basilius mit gutmütigem Spott in der Stimme.
Jakob lachte. »Der Schlaf kann warten! Heute lasse ich Euch nicht vom Haken. Also fangt nur an, ich höre!« Natürlich war er nach den Erlebnissen des Tages und dem anstrengenden Marsch müde, aber doch nicht zu müde für die Geschichte, die Bruder Basilius ihm versprochen hatte.
Es drängte ihn zu erfahren, was sich hinter den mysteriösen Vorfallen im Kloster und dem geheimnisvollen alten Mönch verbarg, den er bei Eis und Schnee nach Himmerod gebracht hatte. Endlich würde sich ihm offenbaren, in welch dunkles Geheimnis er ahnungslos hineingestolpert war und was Domherr Melchior von Drolshagen um jeden Preis in Erfahrung bringen wollte!
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Bruder Basilius faltete seine Decke doppelt und legte sie sich über Schulter und Rücken, um sich hinten vor der Kühle der Nacht zu schützen. »Damit Ihr versteht, wer Bruder Anselm war und was ihn zeit seines Lebens nicht in Ruhe gelassen hat, muss ich Euch zuerst von einem anderen tapferen Mann erzählen - und zwar von Bruder Anselms Jugendfreund, dem Jesuiten Friedrich Spee.«
Jakob schaute ihn über das Feuer hinweg an und wartete geduldig, während Henrik noch einen dicken Ast in die Flammen schob und dann zu seiner Schnitzarbeit griff.
»Friedrich Spee kam 1591 als Sohn eines Burgvogtes in Kaiserswerth, der Kaiserpfalz am Rhein, zur Welt - und zwar in einer Zeit, als marodierende Kriegshorden durch das Land zogen und hysterische Hexenjagden einen schrecklichen Blutzoll forderten. Allein im Trierer Umland starben mehrere hundert Menschen auf den Scheiterhaufen der Hexenjäger. Es gab hier Dörfer, wo nur ein, zwei Frauen die Massenschlächterei überlebten«, begann Bruder Basilius.