Nun begann Jakob die ersten Zusammenhänge zu erahnen. »Weil er befürchtet hat, dass die noch immer allzu mächtigen Hexenjäger in Kirche und Staat seine Aufzeichnungen als Fälschung abtun würden?«
»Natürlich! Denn das Schuldbekenntnis des einst berühmtberüchtigten Hexenbischofs, würde es öffentlich bekannt, wäre für sie eine Katastrophe, für die Opfer der Vergangenheit ein Schuldfreispruch post mortem - und für alle Verfolgten ein Segen, könnte es doch zu einem jähen Ende aller Hexenverfolgungen führen.«
Jakob nickte. »Und dieser Bischof Eichstätt, hat der vor seinem Tod auch so ein spätes Schuld- und Reuebekenntnis verfasst?«, wollte er wissen.
Bruder Basilius verneinte. »Die beiden Männer waren jedoch befreundet, der eine quasi Schüler des anderen. Bischof von Ehrenstein war sich bewusst, welch brisantes Dokument er da verfasst hatte und dass man es sofort vernichten würde, wenn es nach seinem Tod in die falschen Hände geriet.«
»Und deshalb hat er mit Bruder Anselm heimlich Kontakt aufgenommen!«, mutmaßte Jakob.
»Nein, nicht direkt. Er hat Bischof Eichstätt zu sich gebeten und ihm zwei Tage vor seinem Tod seine schriftliche Lebensbeichte anvertraut und ihm aufgetragen für ihre Veröffentlichung zu sorgen. Er wusste sie bei ihm in guten Händen. Denn Eichstätt hatte ihm schon Vorjahren gestanden, dass sich seine einstige, unerschütterliche Selbstsicherheit in der Frage der Folter und der Hexenverbrennungen in ein erdrückendes Schuldbewusstsein verwandelt hatte, dass ihn jede Nacht Alpträume quälten und dass er auch tagsüber nicht vergessen konnte, wie verblendet er früher gewesen war und was er angerichtet hatte.«
»Die Reue alter Männer angesichts des Todes! Ich will Euch zeigen, was ich davon halte!« Jakob spuckte demonstrativ ins Feuer.
»Wenn es Gott wirklich gibt, dann hoffe ich, dass er gerecht genug ist diese Verbrecher, die in Blut und Asche unschuldiger Menschen gewatet sind, nicht ungestraft davonkommen zu lassen!«
»Die beste Art sich zu rächen besteht darin, nicht Gleiches mit Gleichem zu vergelten«, erwiderte der Mönch. »Und Gottes Gerechtigkeit wird kaum dem armseligen, irdischen Bild gleichen, das wir uns von Gerechtigkeit machen. Dann wäre unser Schöpfer und Erlöser nicht mehr als ein etwas besserer weltlicher Richter.«
Jakob machte eine ärgerliche Handbewegung. »Das sehe ich anders, Bruder Basilius!«, widersprach er kühl. »Aber lassen wir das. Erzählt lieber, was dann geschehen ist. Was hat dieser Eichstätt mit dem Dokument gemacht?«
»Bischof Eichstätt hat wenige Monate nach dem Tod des Hexenbischofs Verbindung mit Bruder Anselm aufgenommen«, fuhr Bruder Basilius in seinem Bericht fort, während Henrik noch einmal Holz nachlegte. »Die Lektüre der Lebensbeichte seines verstorbenen Freundes hatte ihn so erschüttert und aufgerüttelt, dass er entschlossen war dieser seine eigene hinzufügen. Da er jedoch schon halb erblindet und zudem von starker Gicht befallen war, so dass er die Feder nicht mehr selber führen konnte, musste er seine Bekenntnisse diktieren. Nur gab es in seiner Umgebung keinen Einzigen, dem er in dieser Angelegenheit vertraute. Und so geriet Bruder Anselm, den er von früher kannte und dem er einmal bitterfeind gewesen war, in das gefährliche Spiel. Ihm wollte er sich anvertrauen, seine Bekenntnisse diktieren und ihm die Aufzeichnungen des Bischofs von Ehrenstein aushändigen. Nur konnte er diesen Mann, dessen Reputation nur zu bekannt war, schlechterdings zu sich in sein Hochstift einladen und tagelang mit ihm hinter verschlossenen Türen zusammensitzen, ohne Argwohn zu erregen und die Feinde auf den Plan zu rufen.«
»Und deshalb hat er sich mit Bruder Anselm an einem geheimen Ort verabredet!«, folgerte Jakob. »Und weil Domherr von Drolshagen glaubt, ich könnte wissen, wo sich die Männer getroffen haben, ist er hinter mir her, nicht wahr?«
»So ist es«, bestätigte der Mönch. »Bruder Anselm hat Ende letzten Jahres sein Kloster unter dem Vorwand verlassen Abschied von seiner sterbenskranken Schwester nehmen zu wollen. In Wirklichkeit hat er sich jedoch auf einem Gut bei Linz am Rhein mit Bischof Eichstätt getroffen. Dort haben die beiden Männer die Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr verbracht und Bruder Anselm hat sich in diesen Tagen die Lebensbeichte des Bischofs diktieren lassen.«
»Ich nehme an, dass Bruder Anselm Euch in alles eingeweiht hat«, sagte Jakob und sah den Mönch nicken. »Was ich jedoch nicht verstehe, ist, dass bei der strengen Geheimhaltung Männer wie Domherr von Drolshagen und der Subprior von Himmerod davon erfahren haben.«
»Nun kurz ein Wort zu der bescheidenen Rolle, die Bruder Anselm mir zugedacht hatte. Er wusste, dass ich die Erlaubnis erhalten hatte in diesem Frühjahr zu einer Pilgerreise nach Santiago de Com-postela aufzubrechen.
Meine Aufgabe sollte es sein beide Dokumente an mich zu nehmen, sie sicher außer Landes zu bringen und sie in Santiago de Compostela einem Mann zu übergeben, der für die Drucklegung dieser sensationellen Bekenntnisse und für ihre Verbreitung garantieren kann. Es war ausgemacht, dass wir uns Mitte Januar scheinbar zufällig in Himmerod treffen wollten.«
»Habt Ihr denn vor seinem Tod noch mit Bruder Anselm sprechen können?«, fragte Jakob.
»Leider nein, obwohl ich es mehrfach versucht habe«, bedauerte der Mönch. »Bruder Tarzisius hat ihn zu gut abgeschirmt. Ein einziges Mal habe ich mich in seine Zelle schleichen können, doch es ist mir nicht vergönnt gewesen, Bruder Anselm in einem klaren Augenblick anzutreffen.«
»Aber woher wussten die anderen von den geheimen Dokumenten und Eurem geplanten Treffen?«, hakte Jakob gespannt nach.
Der Mönch lachte auf. »Menschliche Geheimnisse haben es nun mal an sich, dass sie nicht auf Dauer so geheim bleiben, wie man es sich wünscht. Dass Bischof von Ehrenstein in den letzten Wochen seines Lebens mit einer Niederschrift begonnen hatte, über die er nicht einmal mit seinen engsten Vertrauten sprach; dass er sie handschriftlich verfasste statt sie seinem lang gedienten Sekretär zu diktieren; und dass er sie streng unter Verschluss hielt - all das gab in seiner Umgebung schon Anlass zu ersten Vermutungen und Gerüchten. Diese waren jedoch sogar nach dem Besuch von Bischof Eichstätt noch zu vage, um den Kern zu treffen. Das aber änderte sich ganz plötzlich, als Bischof Eichstätt auf dem Gutshof bei Linz einen Tag, bevor er die Rückreise antreten wollte, einem Gehirnschlag erlag. Damit flog die Geheimhaltung auf. Möglich, dass man bei dem Toten irgendwelche verräterischen Notizen oder gar Briefe von Bruder Anselm gefunden hat. Auf jeden Fall haben Domherr von Drolshagen und seine Freunde natürlich Erkundigungen eingezogen und zwei und zwei zusammengezählt. Und da Bruder Tarzisius beste Beziehungen zur erzbischöflichen Kurie unterhält, ist es nicht verwunderlich, dass der Domherr auch ihn unterrichtet und ihm wohl nahe gelegt hat Augen und Ohren offen zu halten.«
»Und dann haben von Drolshagen und seinesgleichen unverzüglich die Verfolgung von Bruder Anselm aufnehmen lassen, der bestimmt vorausschauend genug gewesen ist sich sofort aus dem Staub zu machen!«, warf Jakob ein.
»Ja, unglücklicherweise nicht in bestem gesundheitlichem Zustand, wie wir nun wissen«, seufzte Bruder Basilius. »Ihm ist es aber zumindest noch gelungen die brisanten Bekenntnisse der beiden Hexenbischöfe irgendwo gut zu verstecken, bevor er auf Euch getroffen, ins Fieberdelirium gesunken und dann in Himmerod in die Hände seiner Feinde gefallen ist. Nun wisst Ihr, in welche Ereignisse Ihr unfreiwillig verstrickt seid.«
Was für eine Geschichte! Einen Augenblick lang herrschte gedankenvolles Schweigen. Sogar Henrik hielt die Hände still und schaute wie in stillem Gedenken an den Mut von Bruder Anselm in das heruntergebrannte Feuer. Wie eine polierte Silberscheibe stand der Vollmond über dem dunklen Wald.
»Es wäre wirklich tragisch, wenn die Aufzeichnungen unauffindbar blieben«, brach Jakob schließlich das Schweigen. »Dann wären alle Mühen vergeblich gewesen.«