»Barmherziger Gott!«, murmelte Bruder Basilius erschüttert. »Der Dreißigjährige Krieg hat die Menschen wahrlich zu hunderttausenden in mitleidlose, blutrünstige Schlächter verwandelt!«
Jakob nickte düster. »Ich habe mich davongeschleppt, weil ich nicht wusste, was mit mir geschehen würde, wenn man mich als einzigen Überlebenden verhörte. Ich wollte nur möglichst schnell weg aus dieser Gegend, wo jeder wusste, wer ich war. Ich schlug mich zum Rhein durch und. beschaffte mir auf dem Weg dorthin einen Esel und einen Karren.«
Ein flüchtiges Lächeln huschte bei dem Wort »beschaffen« über das Gesicht des Schweden.
»Tja, und dann traf ich im Februar am Laacher See auf Euren Bruder Anselm. Damit begann der dritte Alptraum meines Lebens.« Jakob atmete tief durch und fühlte sich irgendwie befreit, weil er nun keine Geheimnisse mehr vor den beiden hatte. »So, jetzt wisst Ihr, wer ich bin und woher ich komme.«
Bruder Basilius legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ihr habt trotz Eurer Jugend wahrlich schon viel Schweres und Bitteres ertragen müssen, Jakob.«
Jakob wurde sich plötzlich wieder bewusst, wo sie sich befanden und was den Anstoß zu seiner Lebensbeichte gegeben hatte. Er schüttelte nun unwillig den Kopf. »Lasst uns nicht länger von mir reden! Hier geht es um Marga. Wir müssen etwas unternehmen, um sie vor dem Scheiterhaufen zu bewahren!«
»Was immer in unserer Macht steht, wir werden es versuchen«, versprach Bruder Basilius.
»Aber was können wir denn tun?«, fragte Jakob und quälende Angst stand auf seinem Gesicht.
»Dem Himmel sei Dank, dass Mendelsheim nicht Trier ist oder Koblenz. Da hätten wir kaum eine Chance etwas für dieses Mädchen zu tun«, sagte Henrik. »Aber in einem Dorf wie diesem können drei entschlossene Männer viel erreichen, wenn sie einen guten Plan und die Überraschung auf ihrer Seite haben.«
»Habt Ihr schon eine Idee?«, fragte Jakob hoffnungsvoll. »Glaubt Ihr, wir können die Wachen überwältigen und Marga aus dem Kerker befreien?«
Henrik zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht, wage es jedoch zu bezweifeln. Der Hufschmied hat davon gesprochen, dass sie das Mädchen in Eisen gelegt haben. Wenn wir also erst Ketten aufschlagen müssen, um sie aus dem Keller zu holen, können wir das gleich vergessen.«
»Bevor wir uns den Kopfzerbrechen, sollten wir uns mit den Örtlichkeiten vertraut machen und versuchen noch mehr darüber in Erfahrung zu bringen, wie gut das Zigeunermädchen bewacht ist und wer die Schlüssel hat«, schlug Bruder Basilius vor. »Denn zu einem blutigen Handgemenge darf es auf keinen Fall kommen!«
»Lieber wollt Ihr zulassen, dass eine Unschuldige bei lebendigem Leib verbrannt wird?«, fuhr Jakob erregt auf. »Ich sehe das anders, Bruder Basilius. Wer sich als Wache zum Handlanger dieser gnadenlosen Hexenjäger macht, hat nichts anderes verdient als notfalls sein eigenes Blut zu schmecken!«
Bruder Basilius zeigte sich gekränkt. »Schlimmer noch als die Brutalität der Gewaltmenschen ist die Gleichgültigkeit der Zuschauer. Und grausamer noch als das Zuschlagen der Täter ist die schweigende Komplizenschaft des Publikums. Denn erst durch seine Passivität verschafft es den Henkern freie Bahn. Ja, Schweigen ermutigt den Folterknecht in seinem Tun. Deshalb müssen wir Christen Partei ergreifen, denn Neutralität hilft immer nur dem Unterdrücker, niemals dem Opfer!«
»Na also!«, sagte Jakob mit grimmiger Genugtuung, glaubte er doch den Mönch in seiner Überzeugung ins Wanken gebracht zu haben.
»Ja, all das ist richtig. Und leider stimmt auch, was Tacitus schon angeprangert hat, als er schrieb: >Die Menge ist so beschaffen, dass sie, wenn sie nicht selber zittert, andere zittern lässt<«, fuhr Bruder Basilius in scheinbarer Übereinstimmung mit Jakob fort. Dann aber fügte er hinzu: »Nur wird aus Unrecht, mit dem ein anderes Unrecht bekämpft wird, niemals Recht. Es fügt dem ersten nur ein zweites Unrecht hinzu. Aber bevor wir uns weiter über theoretische Standpunkte streiten, sollten wir jetzt erst einmal ein scharfes Auge auf die hiesigen Örtlichkeiten werfen!«
Jakob nickte stumm und erhob sich. Aber insgeheim sagte er sich: Dann hole ich Marga eben auf eigene Faust aus dem Keller und notfalls nehme ich es auch ganz allein mit den Wachen auf!
Neunundzwanzigstes Kapitel
Knappe zwei Stunden später hatte sich Jakobs wilde Entschlossenheit in bedrückende Ernüchterung verwandelt. Ihn beherrschte ein entsetzliches Gefühl der Hilflosigkeit angesichts dessen, was sie beobachtet und in Erfahrung gebracht hatten.
Mehrmals waren sie um den Marktplatz herumspaziert, in dessen Mitte ein Zimmermann mit seinen beiden Gehilfen schon den Pfahl in den Boden gerammt hatte, an den Marga morgen gebunden werden sollte. Die Männer arbeiteten nun an einem kleinen Bretterpodest, auf dem die Verurteilte stehen sollte. Eine erste Fuhrwerkladung Reisig und trockene Äste wartete schon darauf, zu einem Scheiterhaufen rund um Pfahl und Podest aufgehäuft zu werden. Der Anblick dieser Hinrichtungsstätte hatte Jakob einen Schauer nach dem anderen durch den Körper gejagt.
Sie hatten sich zum klotzigen Haus des Bürgermeisters begeben, dem die Mühle beim Dorfteich gehörte, es mit scheinbarer furchtsamer Einfalt begafft und sich bemüht dabei jedes Wort der Dorfbewohner aufzuschnappen, die wie sie vor dem Haus standen und sich aufgeregt über die anstehende Hexenverbrennung unterhielten. Anschließend hatte Bruder Basilius einige kostbare Heller in der gut besuchten Dorfwirtschaft am Markt geopfert, um sich auch dort noch umzuhören. Und was sie in der Schenke mit den rußgeschwärzten Deckenbalken erfahren hatten, war alles andere als Mut machend gewesen.
»In das Haus des Bürgermeisters eindringen und das Mädchen im Handstreich da herausholen zu wollen wäre reinster Wahnwitz. Das können wir vergessen«, zog Henrik nüchtern ein Fazit. Sie hatten sich hinter die Kirche zum Friedhof begeben, um ungestört reden zu können, und saßen nun auf der niedrigen Mauer aus Feldsteinen, die den Gottesacker umschloss. »Leider ist der Kellerraum von außen weder durch eine Hoftreppe noch durch ein Fenster zu erreichen. Man gelangt nur durch die innere Kellertreppe in das Verlies, wo Marga angekettet ist.«
»Und von den Wachen einmal ganz abgesehen halten sich einfach zu viele Leute unter dem Dach von Vinzenz Groll auf, als dass ein überraschendes Zuschlagen Aussicht auf Erfolg hätte«, fügte Bruder Basilius niedergeschlagen hinzu. »Er hat die Familien seiner beiden jüngeren Brüder, die außerhalb des Dorfes Bauernhöfe bewirtschaften, in seinem Haus zu Gast, damit sie alle an der Morgenmesse vor der Hexenverbrennung teilnehmen können. Und während des Gottesdienstes wollen sie die Wachen im Keller sogar verdoppeln und noch zwei Männer vor dem Haus postieren. Zu glauben, sie alle ohne Blutvergießen überwältigen zu können, ist Illusion.«
»Dann nehmen wir den Bürgermeister eben als Geisel und zwingen ihn Marga freizulassen!«, schlug Jakob vor.