Henrik wartete nicht auf eine Antwort von ihr. »Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wenn wir nicht sofort verschwinden, kann uns das alle den Kopf kosten!« Er setzte Marga kurzerhand hinter Jakob aufs Pferd, griff nach dem Riemen, den Jakob schon in der Hand hielt, und legte ihn um das Mädchen.
Jakob verknotete den Ledergurt über seiner Hüfte. »Ich bin bereit!«
Henrik warf einen Blick auf die Rauchwolken, die über den brennenden Gebäuden aufstiegen. »Den Fluch hat er geliebt, nun kommt er auf ihn selber!«, zitierte er grimmig aus den Psalmen, sprang dann gewandt auf seinen Rotfuchs und rief: »Nichts wie weg aus diesem elenden Dorf!«
»Oh Gott, ja!«, stieß Marga nun hervor, presste sich an Jakobs Rücken und krallte sich in seine Kleidung, als er den Schimmel antrieb.
Im gestreckten Galopp jagten sie aus dem Dorf, begleitet von einer Kanonade aus Blitz und Donner. Als der Regen schließlich mit schweren, dicken Tropfen über dem Tal niederging, lagen die wacholderbestandenen Hügel von Mendelsheim schon mehrere Meilen hinter ihnen.
Einunddreißigstes Kapitel
Erst drei Stunden später, als der Regen geradezu sintflutartige Ausmaße angenommen hatte, gönnten sie sich und den abgekämpften Pferden eine Rast. Sie flüchteten in den Schutz eines Unterstandes, auf den sie auf einer bewaldeten Hügelkuppe stießen. Er maß über ein Dutzend Schritte im Quadrat, war aus soliden, ungeschälten Kiefernstämmen gezimmert und zweifellos für die Bedürfnisse hochherrschaftlicher Grundbesitzer zur Jagdzeit errichtet worden. Er war mit Tränke und Futterkrippe versehen.
»Hier dürften wir erst einmal sicher sein«, sagte Bruder Basilius und glitt mit schmerzverzerrtem Gesicht aus dem Sattel. Der Gewaltritt hatte ihm schwer zugesetzt.
Nachdem sie das Tal in nordöstlicher Richtung hinter sich gelassen hatten, waren sie zunächst kreuz und quer geritten, um mögliche Verfolger abzuschütteln. Sie hatten die breiten, ausgefahrenen Landstraßen gemieden und schmalen, verschwiegenen Feld- und Waldwegen den Vorzug gegeben. Und statt weiter nach Nordosten zu reiten hatten sie einen Bogen geschlagen und ihre Flucht gen Nordwesten fortgesetzt. Wer immer ihnen aus dem Dorf folgte, würde sie auf dem Weg nach Maria Laach wähnen, kaum aber in Richtung Ahr vermuten.
Jakob löste den Ledergurt und Marga rutschte vom Pferd. Erst jetzt fand sie Gelegenheit ihren Rettern unter Tränen zu danken. Groß war ihre Überraschung, als sie erfuhr, dass der Mann mit der Augenklappe ein Zisterziensermönch und Henrik Wassmo dessen treuer Begleiter war und aus Schweden kam.
Das Gesicht noch geprägt von dem Grauen der vergangenen Tage, erzählte sie ihnen dann, was ihr in Mendelsheim widerfahren war und wie feige die Sippe ihres Vaters sie im Stich gelassen hatte. Dass ihr Folter und Schändung erspart geblieben waren, da sie nach der teuflischen Wasserprobe keine Hoffnung mehr gesehen und daher ein >Geständnis< abgelegt hatte, war der einzige Lichtpunkt in ihrer erschütternden Geschichte.
»Und jetzt weiß ich nicht, wohin«, schloss Marga leise und kämpfte wieder mit den Tränen. »Demeter und die anderen werden mich nicht wieder bei sich aufnehmen, das weiß ich. Für sie bin ich auf ewig gebrandmarkt und nur eine Gefahr für ihre eigene Sicherheit.«
Bruder Basilius machte nicht viel Worte. »Habt keine Sorge, was aus Euch werden soll. Ihr könnt bei uns bleiben, bis Ihr wisst, wo Ihr bleiben oder wohin Ihr gehen wollt«, beruhigte er sie, und nicht nur Marga, sondern auch Jakob schenkte ihm ein dankbares Lächeln.
Jakob befand sich nach der gelungenen Rettungsaktion in euphorischer Stimmung. Nicht einmal der anstrengende Ritt hatte seine Freude auch nur um ein Quäntchen dämpfen können. Marga an seinen Rücken gepresst und ihre Hände um seine Hüften zu spüren hatte alle Ängste und Strapazen mehr als wettgemacht.
»Vorausgesetzt Ihr haltet unsere Gesellschaft nicht für zu gefährlich«, schränkte Bruder Basilius nun sein großherziges Angebot ein. »Und das solltet ihr wirklich bedenken, bevor Ihr Euch entscheidet Euch uns anzuschließen.«
Henrik nickte. »Ihr könntet sehr leicht aus dem Regen in die Traufe kommen, Marga«, pflichtete er dem Mönch bei.
»Wieso sollte ich bei Euch in Gefahr sein, wo Ihr doch Eurer Leben aufs Spiel gesetzt habt, um mich vor dem Tod auf dem Scheiterhaufen zu bewahren?«, fragte sie verständnislos. »Das ergibt keinen Sinn, Bruder Basilius.«
Der Mönch sah Jakob an. »Wollt Ihr Euch der Aufgabe unterziehen ihr zu erklären, was es mit unserer Warnung auf sich hat?«, fragte er. »Ich muss gestehen, dass ich der vielen Erklärungen müde bin. Zumal mich auch noch meine Knochen über alle Maßen plagen.«
»Gern. Doch darf Marga alles erfahren?«, vergewisserte sich Jakob.
Der Zisterziensermönch lächelte und es war ein Lächeln voller Müdigkeit und Traurigkeit. »Wer hätte wohl mehr Recht die ganze Geschichte zu erfahren als sie, die nur um Haaresbreite einer Hexenverbrennung entkommen ist?«, fragte er zurück.
Der Regen prasselte auf das Dach aus halbierten Baumstämmen, als Jakob nun begann Marga von den beiden Hexenbischöfen und Bruder Anselms mutiger Tat sowie von Domherr Melchior von Drolshagen, Himmerod und Trier zu berichten. Es war eine lange Geschichte, zumal Marga ihn in ihrer Bestürzung oder Anteilnahme immer wieder mit Fragen unterbrach, besonders als er ihr von Himmerod und seiner Verschleppung nach Trier in den Turm des Greven berichtete.
»So, jetzt weißt du, auf was du dich einlässt, wenn du mit uns kommst«, schloss Jakob eine gute Stunde später seine Ausführungen.
»Und Bruder Basilius hofft, diese wichtigen Bekenntnisse und Aufzeichnungen irgendwo in Koblenz zu finden?«
»Nicht die Dokumente selbst, aber wohl doch einen Hinweis darauf, wo sie versteckt sein könnten. Und solange weder der Domherr und seine Komplizen noch wir sie gefunden haben, schweben wir in Gefahr- und du mit uns, wenn du dich uns anschließt. Denn Drolshagen wird zwischen dir und mir keinen Unterschied machen, sollte er uns in seine Gewalt bringen. Er will diese brisanten Dokumente um jeden Preis in seine Hände bekommen und vernichten. Und um das zu erreichen, schreckt er vor nichts zurück«, antwortete Jakob und wartete nun gespannt auf ihre Entscheidung.
Marga blickte einen Moment versonnen in den Regen, der inzwischen erheblich an Kraft verloren hatte. Dann sah sie Jakob mit festem Blick an und sagte schlicht: »Dennoch würde ich gern bei euch bleiben.«
Er lächelte erleichtert. »Ich habe gehofft, dass du das sagen würdest.«
Sie erwiderte sein Lächeln.
Kurz darauf hörte der Regen ganz auf. Die Sonne brach zaghaft durch die Wolkendecke und sie machten sich wieder auf den Weg. Jedoch kamen sie nicht annähernd so schnell voran wie in den ersten drei Stunden. Bruder Basilius überließ Marga immer wieder sein Pferd, wenn er es vor Rückenschmerzen nicht länger im Sattel aushielt und für eine Weile zu Fuß gehen musste.
Am späten Nachmittag fühlten sie sich vor möglichen Verfolgern aus Mendelsheim so sicher, dass sie auf die Landstraße zurückkehrten. Kurz vor Sonnenuntergang stiegen sie zu einem Bergrücken auf und ritten in ein einsames, dicht bewaldetes Tal hinunter. Der steinige Weg, der gerade genug Platz für ein Fuhrwerk bot und auf dem unteren Drittel beachtliches Gefälle aufwies, schlängelte sich durch einen hohen Wald. Die Schatten der Bäume waren schon zu einer dunklen Wand verschmolzen. Nun begann die Dunkelheit auch die schmale Schneise des Weges zu füllen.
Als sie den Talboden erreichten und um eine scharfe Biegung kamen, die der Weg um eine Gruppe mannshoher Basaltfelsen machte, sahen sie etwa dreißig, vierzig Schritte vor sich eine primitive Bohlenbrücke. Ohne jegliches Geländer führte sie über einen reißenden Bach hinweg, dessen Fluten zwischen den vielen Felsbrocken in seinem Bett weiß schäumten. Auf dieser Brücke stand eine Kutsche in gefährlicher Schräglage. Zwei, drei morsche Brückenbalken waren unter den Rädern auf der linken Seite eingebrochen. Die Räder steckten nun bis zu den Achsen in dem armbreiten Spalt. Damit stand die Kutsche derart schräg nach links geneigt, dass es den Anschein hatte, als bedürfte es bloß noch eines kräftigen Windstoßes, um sie zwischen die Felsen des Bachbettes stürzen zu lassen.