Pleisgen wollte die Flucht ergreifen. Er erstarrte jedoch wie Krubeck, als Henrik nun mit schneidender Stimme rief: »Wenn Ihr Euch auch nur eine Handbreit von der Stelle rührt, Pleisgen, schlitze ich erst Eurem Komplizen die Kehle auf und nehme mir dann Euch vor! Bleibt Ihr jedoch stehen, habt Ihr eine gute Chance mit dem Leben davonzukommen!«
Jakob war von den brillanten Fechtkünsten des Schweden so fasziniert, dass er den Domherrn für einen Augenblick völlig vergaß.
»Der Dicke versucht zu entkommen!«, alarmierte Marga ihn da.
Jakob fuhr im Sattel herum. Von Drolshagen hatte die Niederlage seiner Männer gar nicht erst abgewartet, sondern schon nach der Weigerung des Kutschers sein Heil in der Flucht gesucht. Er hatte die Brücke bereits hinter sich gelassen und rannte mit wehendem Umhang nach links auf den Wald zu, der jenseits eines freien Geländes aufragte. Der Wald zu seiner Rechten lag zwar bedeutend näher, war von der Straße aber durch eine steile, felsige Böschung getrennt, die schnell genug zu erklimmen er sich wohl nicht zutraute.
»Los, ihm nach!«, schrie Jakob. Ihm war klar, dass sie den Domherrn kaum mehr finden würden, wenn es ihm gelang im Wald unterzutauchen. In wenigen Minuten würde es dort stockdunkel sein und das Unterholz würde tausend Verstecke bieten. Und Bruder Basilius rief er zu: »Gebt mir Euren Knüppel!«
Der Mönch hielt ihm seinen knorrigen Stock hin. »Bringt ihn lebend zurück!«, befahl er ihm mit ungewöhnlich scharfer Stimme.
»Wir werden sehen!«, antwortete Jakob, riss ihm den Knüppel aus der Hand und galoppierte los. Marga folgte ihm auf den Fersen. Dicht hintereinander donnerten sie über die Brücke, auf der rechts neben dem Kutscher gerade noch genug Platz für einen Reiter war.
Kaum waren sie jedoch von der Brücke herunter, als Marga sich ins Zeug legte und bewies, wie ausgezeichnet sie sich auf das Reiten verstand. Tief über den Hals des Pferdes gebeugt, preschte sie an Jakob vorbei. »Ich schneide ihm den Weg ab!«, rief sie ihm zu und hatte ihn auch schon überholt. In geradezu halsbrecherischem Galopp lenkte sie ihr Pferd durch das niedrige Gestrüpp auf der linken Seite, durch das der Domherr dem Waldsaum entgegenrannte.
Drolshagen hatte die ersten Bäume schon erreicht, als Marga schon fast auf seiner Höhe war. Sie trieb den Braunen jedoch mehrere Pferdelängen links von ihm in den Wald hinein, ignorierte die Äste, die wie Peitschen nach ihr schlugen, riss das Pferd dann herum - und kam dem Flüchtenden nun entgegen.
Drolshagen warf sich in panischer Angst herum, stolperte, stürzte, rappelte sich wieder auf und rannte schräg nach rechts - und damit Jakob direkt in die Arme.
»Wolltet Ihr nicht mit mir sprechen? Also was rennt Ihr davon, Hochwürden?«, höhnte Jakob und schwang den Knüppel voller Wut und Kraft.
Der Hieb traf den Domherrn mit großer Wucht zwischen den Schulterblättern und schleuderte ihn nach vorn. Mit einem gellenden Aufschrei stürzte er in ein Gebüsch.
Jakob sprang vom Pferd. »Hoch mit Euch!«, schrie er und schlug ihm den Stock auf den Oberschenkel.
»Mein Gott, brich ihm nicht die Beine!«, rief Marga, bestürzt über den wilden Zorn, der Jakob im Gesicht geschrieben stand.
»Ich breche sie ihm schon nicht!«, erwiderte Jakob, überwältigt von dem wilden Verlangen nach Rache. »Aber er würde uns noch tausendmal schlimmere Sachen auf der Folter zufügen lassen, dessen kannst du sicher sein. Außerdem ist es doch völlig egal, ob ich ihm die Knochen breche oder nicht. Er wird den nächsten Morgen nicht erleben, das schwöre ich dir. Und nun auf!«
Wimmernd kam Drolshagen auf die Beine und Jakob trieb ihn mit Stockschlägen, die er auf Schultern, Arme und Beine niederprasseln ließ, über das freie Gelände vor sich her.
Bruder Basilius eilte ihm entgegen. »Hört auf ihn zu schlagen!«, rief er und fiel ihm in den Arm. »Jakob, es reicht! Er hat genug Prügel bezogen!«
Jakob funkelte ihn mit verzerrtem Gesicht an. »Habt Ihr vergessen, wer diese Kreatur ist? Dieser feiste Kirchenmann hat mehr Blut an seinen Händen als jeder Landsknecht! Er ist ein Schlächter, der unzählige Morde auf dem Gewissen hat.«
»Das mag sein, es ist aber noch lange kein Grund sein schändliches Tun mit derselben Unbarmherzigkeit zu erwidern!«, fuhr ihn der Mönch scharf an, nahm ihm den Stock aus der Hand und packte den verstörten Domherrn am Kragen.
»Habt Ihr vergessen, dass dieser Mann für den Mord an dem Novizen Dominik verantwortlich ist und mich auf die Folter spannen wollte?«, sagte Jakob erregt, während sie über die Brücke zu Henrik schritten, der die beiden Schergen und den Kutscher mit blanker Waffe in Schach hielt.
»Gar nichts habe ich vergessen«, erwiderte Bruder Basilius mit fester Stimme und bedeutete dem Domherrn sich zu Pleisgen, Krubeck und dem Kutscher zu setzen.
»Gut, denn jetzt sind wir am Zug!«, erklärte Jakob entschlossen. »Sie haben uns nach dem Leben getrachtet. Nun werden sie dafür bezahlen. Wir werden ihnen zeigen, wer hier der Stärkere ist und zuletzt lacht!«
»Stärke entspringt nicht physischer Kraft. Sie entspringt aus einem unbeugsamen Willen«, erklärte Bruder Basilius.
Jakob machte eine unwillige Handbewegung. »Ihr könnt reden, wie und was Ihr wollt, aber ich bestehe darauf, dass sie endlich für ihr verbrecherisches Tun zur Verantwortung gezogen werden und ihre gerechte Strafe erhalten!«, verlangte er erregt. »Wir können hier über ihn und seine Handlanger zu Gericht sitzen. Das Urteil ist schnell gefällt! Und dann hängen wir sie, wie sie es verdient haben!«
»Was Ihr wollt, ist nicht Gerechtigkeit, sondern Rache«, hielt Bruder Basilius ihm vor.
»Und wennschon! Diesmal ist es ein und dasselbe!«
Der Mönch schüttelte den Kopf. »Nein, ist es nicht, Jakob. Erinnert Euch, dass die beste Art sich zu rächen darin besteht eben nicht Gleiches mit Gleichem zu vergelten.«
»Nein!«, sagte Jakob grimmig.
Bruder Basilius berührte ihn am Arm. »Jakob, verhärtet nicht Euer Herz. Dieses blutrünstige Verlangen nach Rache passt nicht zu Euch. Glaube und Liebe fordern immer wieder zum Verzeihen heraus.«
»Ich soll ihm verzeihen?«, Jakob spuckte dem Domherrn vor die Füße. »Das werde ich nie und nimmer! Und ich verstehe nicht, wie Ihr so nachsichtig sein könnt. Er hat Gottes Namen geschändet und mehr als den Tod durch den Strick verdient.«
»Es gibt eine alte rabbinische Weisheit, die da heißt: >Der Herr möge ihn strafen, das ist sein Recht. Aber mein Recht ist es mich zu weigern ihm als Peitsche zu dienen!< Und daran gedenke ich mich zu halten. Denn was Ihr zu tun beabsichtigt, entspringt Eurem Hass.«
»Und wennschon!«, knurrte Jakob.
Bruder Basilius zwang ihn mit ihm mehrere Schritte zur Seite zu gehen. »Lasst davon ab Jakob«, redete er eindringlich auf ihn ein. »Lasst Euch nicht von Hass leiten. Hass kann nur zerstören. Das beste Beispiel dafür sind Männer wie der Domherr. Vertraut auf Eure wahren inneren Stärken und lasst Euch sagen, dass Vergeben männlicher und tapferer ist als Vergelten.«
Jakob biss sich auf die Lippen.
»Ich verlange nicht von Euch, dass Ihr den Domherrn in Euer Herz schließt. Aber vergesst Eure primitiven Rachegelüste!«, beschwor ihn der Mönch. »Rache bindet das Opfer erst recht an den Täter - und macht ihn selbst zum Täter, lasst Euch das gesagt sein! Wenn wir hassen, verlieren wir, Jakob. Unweigerlich. Immer. Die Schriftgelehrten und Pilatus haben Jesus voller Hass ans Kreuz nageln lassen und geglaubt damit über ihn triumphiert zu haben. Doch nicht der Hass dieser Männer hat am Ende gesiegt, sondern die unbezwingbaren Mächte Liebe, Glaube und Hoffnung!«
»Bruder Basilius hat Recht«, sagte nun Marga, die sich den beiden genähert hatte. »Stell dich nicht mit diesen skrupellosen Leuten auf eine Stufe. Sie werden ihrer gerechten Strafe schon nicht entgehen. Ich jedenfalls möchte nicht meine Hände und mein Gewissen damit besudeln - und du doch bestimmt auch nicht, oder?«