Die blinde Wut wich langsam von Jakob und er fühlte sich plötzlich beschämt. »Also gut, lassen wir sie mit dem Leben davonkommen«, gab er schließlich nach und fügte laut hinzu, damit der Domherr und die anderen ihn gut hören konnten: »Aber vorher brennen wir ihnen noch ein Zeichen auf die Stirn, damit sie bis an ihr Lebensende gezeichnet sind!«
Ihre vier Gefangenen wurden leichenblass, als sie das hörten. Doch Marga und Bruder Basilius gelang es, ihm auch diese Idee auszureden. Sie begnügten sich damit, vom Kutscher in Erfahrung zu bringen, dass der Scharfrichter Mundt weiter im Westen nach ihnen suchte.
»Gut, dann ist der Weg nach Koblenz ja frei«, entfuhr es Marga in ihrer Erleichterung. Sie biss sich aber sofort schuldbewusst auf die Lippen, als sie Jakobs warnenden Blick sah. Es war jedoch schon zu spät.
»Sorgen wir dafür, dass sie Mundt und seine Spießgesellen nicht so schnell alarmieren und auf unsere Fährte schicken können!«, sagte Henrik und forderte die Männer nun auf sich bis auf ihre Leibwäsche zu entkleiden.
Schweigend leisteten Pleisgen, Krubeck und der Kutscher dem Befehl Folge. Den Tod schon vor Augen, waren sie nun sichtlich erlöst noch einmal mit heiler Haut davonzukommen. Allein der Domherr bekam wieder Oberwasser und weigerte sich. Er ließ sich sogar dazu hinreißen, ihnen bittere Vergeltung anzudrohen.
Henrik machte kurzen Prozess mit ihm, indem er mit der Klinge nachhalf und seine Kleidung von oben bis unten aufschlitzte. Drolshagen stand schneller in zerfetzter Leibwäsche da als seine gedungenen Männer. Mit einer Mischung aus kochender Wut und Angst legte er jeglichen Schmuck ab und händigte ihn dem Schweden aus.
Jakob und Marga halfen dabei, die Kleidungsstücke in Fetzen zu verwandeln und vom Bach davonschwemmen zu lassen. Das Schuhwerk der Männer fiel Henriks scharfem Messer zum Opfer und landete ebenfalls im Wasser. Anschließend spannten sie die beiden Pferde aus, zerschnitten das Zaumzeug aller Tiere und kippten die Kutsche in den Bach, wo Räder und Achsen an den Felsen zerbarsten.
»Nach den Pferden sucht Ihr besser gar nicht erst hier, sondern im nächsten Tal«, riet Bruder Basilius ihnen und zum Domherrn gewandt sagte er: »Euren Schmuck und Euer kostbares Kreuz, das Ihr mit Eurem erbärmlichen Machthunger und Hexenwahn so schändlichst verhöhnt, werde ich nach Trier zu Eurem Erzbischof schicken!«
»Ihr werdet für alles büßen!«, schrie der Domherr ihnen nach, als sie mit den vier Pferden im Schlepp davonritten und auf der anderen Seite der Brücke schnell von der Dunkelheit verschluckt wurden. »Ihr entkommt mir nicht!«
»Es tut mir Leid, dass mir das mit Koblenz herausgerutscht ist«, entschuldigte sich Marga beschämt, als sie sich schon längst außer Hörweite befanden. »Das war ein unverzeihlicher Fehler von mir. Ich verstehe selbst nicht, wie mir das passieren konnte.«
»Macht Euch deswegen nicht das Herz schwer, Marga«, sagte Bruder Basilius nachsichtig. »Koblenz ist kein kleines Dorf, wo man uns leicht finden kann. Zudem verfügt der eitle Domherr dort über keine Macht. Der Klerus von Koblenz und der Erzbischof von Trier verstehen sich so gut wie Hund und Katze. Und mit ein bisschen Glück werden mindestens ein, zwei Tage vergehen, bis Drolshagen auf Mundt trifft. Wir dagegen reiten die Nacht durch, damit wir morgen in aller Frühe, wenn die Tore geöffnet werden, in Koblenz sind.«
Die vier Pferde ließen sie im nächsten Tal frei und scheuchten sie in den Wald. Dann wandten sie sich nach Südosten, wo Koblenz lag. Sie kamen gut voran, auch wenn Bruder Basilius zwischendurch immer wieder vom Pferd steigen musste. Gegen Mitternacht konnten sie sich sogar eine Pause von drei Stunden gönnen. Henrik bestand darauf, Wache zu halten und Jakob war dankbar dafür. In der Nacht zuvor in Mendelsheim hatte er vor Aufregung und Sorge, ob ihr Plan auch Erfolg haben und Marga vor dem Feuertod auf dem Scheiterhaufen retten würde, so gut wie nicht geschlafen. Nun fielen ihm sofort die Augen zu, kaum dass er sich auf dem weichen Waldboden ausgestreckt hatte. Auch Marga sank augenblicklich in einen tiefen Schlaf der Erschöpfung.
Im Morgengrauen, als sich der Himmel mit dem roten und goldenen Licht der aufgehenden Sonne krönte, kamen sie über die letzte Hügelgruppe, die ihnen den Blick auf die Stadt verwehrte. Und dann lag Koblenz endlich vor ihnen, umschlossen von hohen Festungsmauern mit ihren Wehrtürmen und Zinnen und mit dem linksseitigen Moselufer durch eine stattliche Brücke verbunden, die im Fluss auf neun mächtigen Pfeilern ruhte und schon im 14. Jahrhundert errichtet worden war.
»Da ist sie, die finstere Macht von Mauern, Türmen und Zinnen, die zu Stein gewordene Abweisung!«, bemerkte Henrik, als das Sonnenlicht wie Feuer zwischen den Zinnen hervorbrach.
Bruder Basilius nickte. »Ja, Festungsmauern sind wahrlich ein Symbol der Selbstvergötzung der Herrschenden.«
Jakob lenkte sein Pferd an die Seite des Mönches. »Wisst Ihr schon, wo wir in der Stadt unterkommen können, ohne dass man uns so leicht ausfindig machen kann?«
Bruder Basilius nickte: »Wir werden uns der Gastfreundschaft von Bartholomäus Bartholy erfreuen und möglicherweise von ihm einen Hinweis erhalten, der das Rätsel um das Versteck der wichtigen Papiere löst.«
»Und wer ist dieser Bartholomäus Bartholy, der dort in Koblenz lebt?«, wollte Marga wissen.
»Der wohl beste Freund von Bruder Anselm, der sein ganzes Leben dem unermüdlichen Lobpreis Gottes und der Muttergottes gewidmet hat.«
»Also ein Mönch wie Ihr«, folgerte Jakob und fragte sich schon, wie ein Ordensmann sie bloß bei sich verstecken sollte.
»Nein«, sagte Bruder Basilius mit einem feinen Lächeln. »Ein Beter mit Pinsel und Öl - ein Maler.«
DRITTES BUCH
DIE INSEL IM STROM
Zweiunddreißigstes Kapitel
Auf dem großen Platz zwischen Hauptwache und Liebfrauenkirche drehte sich alles um die Vorbereitungen für den Ostermarkt. Jakob, Marga und Henrik schenkten dem turbulenten Treiben nur flüchtiges Interesse. Ihre Gedanken waren mit anderen Dingen beschäftigt als mit den traditionellen Vergnügungen, die mit dem Osterfest einhergingen. Ohne Hast, aber doch zielstrebig folgten sie dem Bogen, den die Gasse Am alten Kornmarkt machte. Marga führte den Schecken, den sie bei dem Koblenzer Pferdehändler Nikolaus Seeger in der Weißergasse beim Ochsenturm gekauft hatten, am Zügel hinter sich her. Die Sonne, die von einem fast wolkenlosen Himmel schien, fühlte sich herrlich warm auf ihren Gesichtern an.
Bruder Basilius hatte es für ratsam erachtet sie schon kurz nach ihrer Ankunft bei Bartholomäus Bartholy, der sie mit ebenso großer Überraschung wie Herzlichkeit unter seinem Dach willkommen geheißen hatte, wieder aus dem Haus zu schicken.
»Am besten tätigt Ihr schon heute alle notwendigen Einkäufe«, hatte er ihnen geraten. »Denn heute können wir noch sicher sein, dass wir hier nicht dem Domherrn oder einem seiner Bluthunde in die Arme laufen. Schon ab morgen müssen wir wieder auf der Hut sein.«
Das war eine Überlegung, die Hand und Fuß hatte. Jakob hegte insgeheim jedoch den Verdacht, dass der Mönch sie auch noch aus einem anderen Grund sofort wieder aus dem schmalbrüstigen Haus unweit des Paradeplatzes geschickt hatte - weil er nämlich eine Weile mit dem Maler allein sein wollte. Nun, ihm war es recht gewesen sich gleich in den ersten Stunden ein wenig in Koblenz umsehen und auf den belebten Straßen und Plätzen ohne Angst vor Entdeckung bewegen zu können. Und er hoffte, dass Bartholomäus Bartholy ihnen auch wirklich weiterhelfen konnte, was das Versteck der Dokumente betraf.
Drei Häuserfronten hinter der Jesuitengasse gelangten sie auf einen kleinen Platz, auf dem man einen Viehpferch von ungefähr sechs, sieben Schritten im Quadrat errichtet hatte. Eine johlende Menschenmenge drängte sich um diese solide Umzäunung aus Längsbalken, Querstreben und Brettern.