Jakob hörte das schrille Quieken eines Schweines und blieb unwillkürlich stehen. Seine Neugier war geweckt. Er reckte den Hals und stellte sich auf die Zehenspitzen, um einen Blick auf das Geschehen zu erhaschen. »Kann mir einer verraten, was da vor sich geht?«, fragte er verwundert, als er mehrere Männer im Pferch erblickte, die merkwürdige Helme und Lederharnische trugen. Bewehrt mit dicken Knüppeln, taumelten sie durch den Pferch und schlugen dabei wild um sich.
»Das sieht mir ganz nach >Schweineschlagen< aus«, vermutete Marga.
Jakob sah sie verwundert an. »Schweineschlagen? Was soll denn das sein?«
Marga verzog das Gesicht. »Eine der üblichen, derben Volksbelustigungen, die zu besonderen Festzeiten in den Städten veranstaltet werden.«
»Ein böses Spiel, das da mit den Blinden getrieben wird«, sagte Henrik grimmig.
»Die Männer mit den Harnischen und Knüppeln sind Blinde?«, stieß Jakob betroffen hervor und verstand nun, warum die Männer so merkwürdig durch den Pferch wankten, scheinbar ziellos ihre Prügel durch die Luft sausen ließen, sich gegenseitig anrempelten und niederschlugen.
Die Menge johlte, als einer der blinden Männer mit einem Schmerzensschrei zu Boden stürzte und das Schwein unter angsterfülltem Kreischen über ihn hinwegsprang.
Marga nickte. »Ja, gewöhnlich schickt man vier oder fünf Blinde mit Harnisch und Knüppel ausgerüstet zu einem Schwein in den Pferch. Ihre Aufgabe ist es das Schwein totzuschlagen. Aber da sie nun mal blind sind, prügeln sie mehr gegenseitig auf sich ein als auf das Schwein. Es dauert eine ganze Weile, bis sie das arme Tier endlich totgehauen haben. Und dann haben sie sich trotz Harnisch schon längst gegenseitig grün und blau geschlagen, ja manchmal sogar die Knochen gebrochen.«
»Das ist ja abscheulich!«, sagte Jakob. »Wie kann man so etwas bloß zulassen?«
Marga zuckte die Achseln. »Du wirst es nicht glauben, aber die Blinden reißen sich förmlich darum, bei solch einem Schweineschlagen mitmachen zu dürfen. Denn zum Trost dürfen sie sich hinterher den Braten teilen.«
Jakob schüttelte erzürnt den Kopf und wandte sich von dem abstoßenden Schauspiel ab. »Das soll ein Trost sein? Das ist grausam und erniedrigend!«
»Das sind die mildtätigen Gaben der guten Bürger, die übermorgen fromm an der Osterprozession teilnehmen werden«, sagte Henrik sarkastisch, um aus seinem Psalmenschatz dann hinzuzufügen: »Wie ein gähnend Grab die Kehle und die Zunge trieft von Schmei-chel! Aber auch sie werden dem Gras auf den Dächern gleichen, das schon verdorrt ist, wenn man es rauft!«
»Ich hoffe, dieser kauzige Maler Bartholy kennt des Rätsels Lösung, damit wir möglichst schnell von hier verschwinden können«, sagte Jakob bedrückt, als sie den Platz verließen und eine Straße hinuntergingen, die zum Rheintor hinter dem Karmeliterkloster führte. »Städte haben bestimmt eine Menge zu bieten und offensichtlich fühlen sich viele in ihren Mauern ja auch wohl. Ich jedoch habe nichts für sie übrig.«
»Ich auch nicht«, pflichtete Marga ihm bei. »Ich habe die Einstellung meines Vaters geerbt, der immer sagte, in seinen Adern fließe das besondere Blut der Wanderlust!« Sie lachte. »Wenn ich einen Berg erklommen habe und in ein Tal schaue, dann freue ich mich daran. Aber schon bald möchte ich wissen, was denn hinter dem nächsten Berg liegt, und dann zieht es mich wieder fort.«
»Mhm, ja, das könnte mir auch gefallen«, sagte Jakob und tauschte einen bedeutungsvollen Blick mit ihr.
Henrik schmunzelte.
Das Haus des Malers Bartholomäus Bartholy lag zwischen dem Jesuiten-Collegium und dem Kloster der Franziskaner. Von der Dachluke aus konnte man nicht nur die beiden Kirchen sehen, sondern auch einen Zipfel des weiter östlich gelegenen Paradeplatzes erkennen.
Sie führten den Schecken zu den anderen drei Pferden, die im Hinterhof unter einem Unterstand einen Ruheplatz gefunden hatten, vergewisserten sich, dass die Tiere genug Futter und Wasser hatten, und betraten das Haus. Als sie die Treppe ins zweite Obergeschoss hochstiegen, wo Bartholy sein Atelier hatte, kam ihnen Lorenz Biesenfeld entgegen. Der Geselle des Malers war ein weißblonder, hagerer und hohlwangiger Mann von schon fast dreißig Jahren. Er hatte Farbkleckser im Gesicht und auf seinem grauen Kittel aus grobem Leinen.
»Ihr findet Mönch und Meister im Atelier«, sagte er überflüssigerweise und ließ seinen Blick bedeutend länger auf Marga ruhen, als es Jakob lieb war. Geradezu unverschämt, wie dieser Bursche auf die Stelle von Margas Kleid starrte, wo ihr Busen den Stoff wölbte!
»Wer hätte das gedacht«, sagte Jakob spitz.
Lorenz Biesenfeld beachtete ihn gar nicht. Er grinste Marga an. »Meister Bartholy sollte Euer Gesicht für eines seiner Madonnenbilder verwenden«, schmeichelte er ihr und zwängte sich dann an ihr vorbei.
»Hast du das gehört?«, fragte Marga amüsiert und zugleich geschmeichelt. »Dieser Lorenz Biesenfeld versteht sich auf das Komplimentemachen wohl so gut wie aufs ein Handwerk mit Öl und Pinsel.«
»Öliger Affe!«, murmelte Jakob mit abgewandtem Gesicht.
Henrik, der ihn im Gegensatz zu Marga sehr wohl gehört hatte, stieß ihm im Vorbeigehen warnend in die Rippen. »Auch vom Gegner kann man lernen«, raunte er ihm zu und stieß die Tür zum Atelier auf.
Der lange, hohe Raum war zum Dachstuhl hin offen, durch einfache Bretterregale und mehrere Schränke unterteilt sowie mit einem Dutzend Stellagen und Staffeleien in allen nur denkbaren Größen voll gestellt. Auf diesen Gestellen, die mit Farbflecken übersät waren, standen kleine und große Ölbilder in den unterschiedlichsten Stadien der Fertigstellung. Zudem fiel der Blick überall auf Skizzen, Entwürfe und Studien mit Kohlestiften. In den Regalen sowie auf Schränken und Truhen fanden sich Paletten, Malstöcke, Tiegel und Behälter mit angeriebenen Farben sowie irdene Kannen und Zinnbecher, in denen Pinsel steckten. Mit Ausnahme von zwei fast fertigen Porträtbildern, die wohl einen vermögenden Kaufmann und eine junge Frau aus ebenso begütertem Haus darstellten, zeigten alle Gemälde religiöse Szenen, wobei Darstellungen der Gottesmutter überwogen.
Vor einem der beiden doppelflügeligen Fenster stand auf einer großen Staffelei das mehr als mannshohe Gemälde, an dem Bartholomäus Bartholy zur Zeit arbeitete. Es zeigte die Madonna zum Zeitpunkt der Verkündigung und war reich an Details, die zu studieren Jakob noch keine Gelegenheit gehabt hatte.
Bruder Basilius und sein Malerfreund standen in eine Unterhaltung vertieft vor diesem halb fertigen Gemälde, als Jakob, Marga und Henrik den lang gestreckten Raum betraten.
»Ah, das tapfere Gefolge unseres Zisterziensers ist wieder zurück!«, rief Bartholomäus Bartholy und sprang von dem kniehohen Podest, das vor der Staffelei stand. Der Maler war nämlich von so kleinwüchsiger Gestalt, dass nicht viel fehlte, um ihn als Zwerg bezeichnen zu können. Jakob schätzte ihn um ein gutes Jahrzehnt jünger als Bruder Basilius und wunderte sich, wie jemand eine Glatze und gleichzeitig einen derart feuerroten Bart haben konnte. Bartholomäus Bartholy hatte ein erstaunlich markantes, männliches Gesicht mit klaren, fröhlichen Augen und sein Bart reichte ihm wie ein wildes, rotes Wollknäuel bis mitten auf die Brust. Sprenkel von königsblauer und blütengelber Farbe fanden sich in diesem feuerroten Dickicht.
»Kommt, lasst uns eine gute Flasche Wein öffnen und sehen, was Annelie, meine Wirtschafterin, die zugleich auch tüchtige Magd und Köchin ist, für uns zubereitet hat!«, forderte Bartholomäus Bartholy sie auf. »Über zwanzig Jahre hält sie mir schon die Treue. Nun, dafür habe ich ihr Gesicht auf zwei Madonnenbildern verewigt. Eines hängt im Kloster Maria Laach und das andere schmückt die Kapelle des Jesuiten-Collegiums.«