Bruder Basilius schmunzelte. »Es ist nicht meine Seite, die ich mir ausgedacht habe, sondern vielmehr die geschichtlich korrekte Ergänzung ihrer Person, die andere Hälfte ihres Wesens, die sich genauso in der Heiligen Schrift belegt findet wie ihre Demut.« Er machte eine kurze Pause. »Maria war eine sehr starke, selbstbewusste und mutige Frau, die sich von den Vorurteilen ihrer Zeit nicht darin beirren ließ, freimütig und kämpferisch ihren Weg zu gehen. Sie wusste, dass eine Frau, die vor ihrer Ehe schwanger wurde, Gefahr lief gesteinigt zu werden. Sie nahm dieses Wagnis jedoch auf sich, wie sie auch all den Hohn und Spott auf sich nahm. Zweifellos wird man sie geschnitten und ihr das Leben schwer gemacht haben. Aber statt zu jammern und zu verzagen bricht sie während ihres Besuches bei Elisabeth in das wunderbare Magnificat aus. Und wer dieses nur als demütige Unterwerfung unter Gottes Wort betrachtet und nicht auch als Ausdruck großer Freude und starken Selbstbewusstseins, der ist entweder ein ausgemachter Dummkopf oder stellt sich aus skrupelloser Berechnung auf einem Auge blind. Und ich sage Euch: Wäre die Bibel nicht ausschließlich von Männern verfasst worden, die kein allzu großes Interesse an Marias Rolle hatten, wir würden heute sicherlich über einen gewaltigen Schatz von Worten und Taten der Muttergottes verfügen - und manches davon würde den machtbesessenen und eitlen Männern auf ihren vergoldeten Stühlen arg gegen den Strich gehen, das könnt Ihr mir glauben!«
Jakob grinste unwillkürlich. Bruder Basilius hatte eine ausgesprochen erfrischende Art so manchen Dingen, von denen er, Jakob, eine scheinbar unumstößliche Meinung zu haben geglaubt hatte, ein völlig neues Gesicht und neue Bedeutung zu geben.
»Maria hat uns allen, insbesondere aber allen Frauen ein Beispiel gegeben, dass es sehr wohl möglich ist, sich aus den oftmals erdrückenden Zwängen einer patriarchalischen Gesellschaft zu befreien und den eigenen Weg zu bestimmen«, fuhr der Mönch fort. »Es ist natürlich kein Wunder, dass in unserer Männerwelt, in der das Verlangen nach Macht und Reichtum vorherrscht, diese Seite Mariens von herrschsüchtigen Fürsten und Bischöfen am liebsten verschwiegen wird. Aus ihrer Sicht ist es nur zu verständlich, dass sie viel lieber die unnahbare Demutsgestalt der Muttergottes quasi als verlängerten Arm einer zum Gehorsam aufrufenden Kirche benutzen möchten. Aber dagegen haben schon zu allen Zeiten Klosterfrauen mit ihrem Schrifttum gekämpft. Ihr braucht beispielsweise nur die Bücher der heiligen Teresa von Avila oder Hildegards von Bingen zu lesen, um sehr schnell festzustellen, dass diese Frauen wahrhaftig nicht unter weiblicher Minderwertigkeit gelitten haben. Sie und andere - Gott sei Dank auch einige kluge Köpfe unseres Geschlechtes, Jakob! - haben immer wieder aufgezeigt, dass Maria stets auf der Seite der Schwachen und Verachteten stand und kein unerreichbarer Übermensch war, sondern eine Frau, die alles erlitten hat, was auch heute Frauen erleiden: Schwangerschaft und Entbindung, Armut und Ausgrenzung, Flüchtlingselend und den Verlust des geliebten Kindes. Wir alle können uns ihr getrost zuwenden, wie wir uns unserer Mutter zuwenden würden, nämlich voller Vertrauen auf ihre Liebe und ihren Beistand. Und noch etwas ganz Entscheidendes wird gern verschwiegen: dass Frauen wie Maria mehr Mut und Charakter bewiesen haben als alle Apostel zusammengenommen!«
Jakob lachte. »Oh, jetzt kommt Ihr aber richtig in Fahrt, will mir scheinen! Ihr klingt ja wieder einmal wie ein reformatorischer Ketzer!«
»Luther war ein großer Marienverehrer, das solltet Ihr wissen! Andererseits haben die Kirchen der Reformation Maria leider als wichtigen Bestandteil aus der Erlösungsgeschichte verbannt. Sie lassen nur noch den gekreuzigten Jesus gelten und machen sozusagen alles zur reinen Männersache: Gott, Gottes Sohn und die Erlösung! Alles fest in Männerhand. Doch das ist wider die Schöpfung und entspricht auch nicht der Rolle, die sowohl Gottvater als auch Jesus den Frauen eingeräumt haben, wie in der Bibel an vielen Stellen nachzulesen ist«, bedauerte er. »Aber ich wollte ja etwas über den Mut und den Charakter der Frauen sagen. Sehen wir uns doch nur die Kreuzigung an: Während sich die Apostel feige aus dem Staub machen, beweisen Maria und die anderen Frauen von Jesu Gefolgschaft ihm als einzige wahrhaftige Treue und Nachfolge bis in den Tod. Das angeblich minderwertige, schwache Geschlecht zeigte sich mannhafter und mutiger als die Apostel, die im Angesicht der Bewährung wieder einmal versagten.«
»Wieso brauchten sie denn Mut, um bei der Kreuzigung auszuharren, einmal abgesehen von dem schrecklichen Anblick?«, wollte Jakob wissen.
»Weil sie sich mit ihrer beharrlichen Anwesenheit der großen Gefahr aussetzten selbst verhaftet, gefoltert und hingerichtet zu werden!«, erklärte Bruder Basilius. »Denn damals galt es als ein Verbrechen die Hinrichtung eines Staatsfeindes zu betrauern und diese Verbundenheit bei der Urteilsvollstreckung auch noch öffentlich zum Ausdruck zu bringen. Wem als Verwandten oder Freund eines Verurteilten sein Leben lieb war, der hielt sich deshalb möglichst weit von der Hinrichtungsstätte auf. Nicht so Maria und ihre Begleiterinnen. Sie boten der Obrigkeit mutig die Stirn und harrten unter dem Kreuz aus.«
»Das ist wirklich interessant und wirft ein ganz anderes Licht auf Maria«, gab Jakob zu. »Ich gestehe, dass die Muttergottes für mich bisher immer eine entrückte, verklärte Gestalt gewesen ist, mit der ich wenig anfangen konnte.«
Ein etwas schmerzliches Lächeln huschte über das Gesicht von Bruder Basilius. »Ja, leider gehört es zu den ausgeprägten menschlichen Schwächen immer wieder vorschnell ein Urteil zu fällen, ohne dass wir uns vorher gründlich kundig gemacht haben und ohne recht zu wissen, worüber wir eigentlich mit so fester Überzeugung reden.«
»Eigentlich sollte ich Euch ernsthaft böse sein, Bruder Basilius«, sagte Jakob und erhob sich.
»Weshalb?«
»Weil Ihr mir immer wieder auf beschämende Weise vor Augen führt, wie wenig ich doch eigentlich weiß - und wie falsch und ungerecht ich vieles beurteile«, antwortete er und trat an die Staffelei.
»Daran ist nichts Beschämendes, Jakob. Beschämend ist es nur, wenn man etwas lernen und damit der Wahrheit näher kommen kann, sich aber bewusst abwendet und die Ohren verschließt.«
Im Licht der untergehenden Sonne betrachtete Jakob das Gemälde von der Verkündigung an Maria. Die von Licht und Blumen umkränzte Madonna kniete auf einer Art Betstuhl vor einem offenen Rundbogenfenster, ein Buch in der einen Hand und eine Nelke in der anderen, und blickte zum Erzengel Gabriel hinüber. Auf dem Fenster saßen zwei Vögel und inmitten eines Windstoßes, der geradewegs aus einer Wolke zu Maria ins Zimmer drang und wohl Gottes Atem oder Wort darstellen sollte, glitt eine Taube herab und verharrte über dem Kopf der Jungfrau. Das Bild strahlte ebenso Kraft wie tiefen Frieden aus. Es besaß für Jakob auf einmal einen völlig neuen Ausdruck und berührte etwas in ihm, was er vorher nicht empfunden hatte.
»Ich nehme an, jedes Detail auf solch einem Tafelbild hat eine symbolische Bedeutung, nicht wahr?«
Bruder Basilius stand von der Pritsche auf und gesellte sich zu ihm. »Das hat es in der Tat. Die Taube symbolisiert den Heiligen Geist und die Nelke das Leiden Christi. Ihre rote Farbe steht für das von ihm vergossene Blut. Blatt und Frucht besitzen die Form von Nägeln, mit denen Christus ans Kreuz geschlagen wurde. Auch die roten und weißen Rosenblüten, mit denen Maria gekränzt ist, sind nicht zufällig gewählt«, erklärte er. »Die fünf Blütenblätter der Rosen versinnbildlichen die fünf Wunden Christi, insbesondere die der roten. Die weißen Rosen stehen für Marias jungfräuliche Reinheit.«
»Und was haben die beiden Vögel auf dem Fenstersims zu bedeuten?«, fragte Jakob.
»Das sind Distelfinken. Da diese Vögel mit Vorliebe Distelsamen aufpicken, hat man sie mit der Dornenkrone und der Passion Jesu in Verbindung gebracht. Der Legende nach soll ein Distelfink Jesus Christus, als dieser das Kreuz durch die Straßen Jerusalems schleppte, einen Dorn aus der Krone gebrochen haben, der sich in seine Augenbraue gebohrt hatte. Und angeblich verdankt dieser Vogel sein rotes Federkleid dem Blute Christi.«