Jakob starrte auf die beiden Vögel, die sich gegenübersaßen. »Distelfinken.« Dieses Wort weckte in ihm auf einmal eine Erinnerung an jene eisige Winternacht in Himmerod. »Komisch, auch Bruder Anselm hat von ihnen im Fieber gesprochen, als ich ihn in Himmerod kurz vor seinem Tod in der Zelle besucht habe.«
Der Mönch an seiner Seite stutzte und sah ihn verwirrt an. »Er hat wovon gesprochen?«
»Nun, von Distelfinken und von Maria, und dass sie mit der Madonna singen. Es war wirres Zeug, aber daran entsinne ich mich jetzt wieder.«
Bruder Basilius packte ihn an der Schulter. »Jakob, könnt Ihr Euch noch an mehr erinnern?«, rief er aufgeregt. »Um Himmels willen, strengt Euch an! Vielleicht hat er gar nicht im Fieberwahn geredet, sondern versucht Euch eine Botschaft zu übermitteln!«
Jakob biss sich auf die Lippen und dachte angestrengt nach. »Schon in der Nacht, als ich ihn nach Himmerod brachte, hat er viel von der Heiligen Jungfrau gestammelt. Es waren aber alles nur zusammenhanglose Satzfetzen. Er sagte irgendetwas davon, dass auch die größte Schuld am Busen der Gottesmutter barmherzige Aufnahme findet. Ich glaube, er sprach von einem Hort der Gnade und Sicherheit.«
Bruder Basilius stöhnte wie gequält auf. »Weiter! Weiter!«, drängte er mit atemloser Stimme. »Er hat Euch das Versteck verra-ten! Ich bin mir dessen jetzt ganz sicher. Barmherzige Aufnahme, Hort der Gnade und Sicherheit - damit ist eindeutig der Ort gemeint, wo er die Dokumente, die eine entsetzliche Schuld offenbaren, versteckt hat.«
»Meint Ihr?«, fragte Jakob, von der Erregung des Mönches angesteckt.
»Ja! Wir sind dem Rätsel auf der Spur, Jakob. Ihr könnt es lösen! Ihr habt die Antwort in Euch, habt sie die ganze Zeit in Euch gehabt ohne es zu wissen. Jetzt kommt es nur darauf an, dass Ihr Eure Erinnerung zielstrebig erforscht und Euer verschüttetes Wissen in Euer Bewusstsein zurückholt! Ihr könnt es. Ich weiß, dass Ihr es könnt!«, sagte er mit eindringlicher, fast beschwörender Stimme. »Strengt Euch an und lasst das Geheimnis nicht wieder entgleiten! Sagt, woran könnt Ihr Euch noch erinnern?«
Jakob schloss die Augen und konzentrierte sich, versuchte sich mit aller Kraft ins Bewusstsein zurückzurufen, was Bruder Anselm in jenen Wintertagen zu ihm gesagt hatte. Und plötzlich war ihm, als würde sich ein Fenster zu einer Kammer seiner Erinnerung öffnen. »Es fiel das Wort Zeugen. Zeugen der Schande.«
»Die Bekenntnisse der Hexenbischöfe!«, flüsterte Bruder Basilius, als fürchtete er mit normaler Stimme das magische Band zu zerreißen, das Jakob zu den Tiefen seiner Erinnerung geknüpft hatte.
». und er sprach von ruchlosem Wahn und Feuer. ja, und von Disteln und Ähren, die in einem Strom ruhen.«
»Strom?«, stieß Bruder Basilius hervor. »Er sprach von einem Strom?«
»Ja, und von einer Insel«, erinnerte sich Jakob und hatte plötzlich eine Gänsehaut. »>Auf der Insel unserer Töchter<, - das waren seine Worte.«
Bruder Basilius schüttelte verständnislos den Kopf.
»Strom? Auf der Insel unserer Töchter? Was kann er bloß damit gemeint haben?«
»Fragt mich nicht, was Distelfinken und diese Insel unserer Töchter miteinander zu tun haben können. Ich weiß es ganz sicher nicht«, antwortete Jakob und öffnete wieder die Augen. »Leider ist das alles, an das ich mich erinnern kann.«
Der Mönch riss auf einmal Mund und Auge weit auf. »Das genügt! Denn jetzt weiß ich, wo er die Dokumente versteckt hat!«, rief er triumphierend. »Und zwar auf Niederwerth!«
»Seid Ihr Euch auch wirklich sicher?«, fragte Jakob skeptisch, weil er fürchtete enttäuscht zu werden.
»Ja, so sicher, wie man sich nur sein kann!« Bruder Basilius lachte, klatschte in die Hände und drückte ihn stürmisch an seine Brust. »Ihr habt das Rätsel gelöst, Jakob, gelobt sei unser Herr und Euer junges Gedächtnis! Endlich haben Grübeln, Rätselraten und zielloses Herumirren ein Ende. Denn nun wissen wir, wo wir zu suchen haben!«
Jakob fühlte sich von der Euphorie des Mönches mitgerissen, lachte und war von Stolz und Aufregung erfüllt. »Und wo liegt dieses Niederwerth?«, wollte er wissen, als Bruder Basilius ihn wieder freigegeben hatte.
»Niederwerth ist eine lange, schmale Insel im Rhein, nur einige Meilen flussabwärts von Koblenz. Und wisst Ihr, warum Bruder Anselm von ihr als >der Insel unserer Töchter< gesprochen hat? Weil sich auf dieser Rheininsel ein Nonnenkloster befindet - und ein berühmtes Madonnenbild mit Distelfinken! Früher ist die Abtei ein Augustiner-Chorherrenstift gewesen, doch 1580 musste man sie den Töchtern unseres Ordens überlassen, den Zisterzienserschwestern des einstigen Koblenzer Marienklosters in der Leer.« Er schlug sich vor die Stirn. »Und jetzt fällt mir auch wieder ein, dass ja die Tochter von Bruder Anselms älterer Schwester dort Priorin ist! Ich werde wahrlich alt, dass mir das nicht eher in den Sinn gekommen ist!«
Jakob grinste. »Wollen wir uns die Hand reichen, weil uns beiden erst so spät ein Licht aufgegangen ist?«
Bruder Basilius schlug ihm lachend auf die Schulter. »Ach was, wir wollen froh sein, dass wir den Ort des Verstecks endlich kennen. Und jetzt lasst uns zu den anderen gehen und sie mit unserer guten Nachricht überraschen!«
Marga, Henrik und auch Bartholomäus Bartholy wollten es erst nicht glauben, dass sie das Rätsel gelöst hatten. Als Bruder Basilius ihnen jedoch alles auseinander gesetzt und von dem berühmten Ma-rien-Tafelbild mit den Distelfinken erzählt hatte, das auf der Empore der Klosterkirche hing, war die Freude auch bei ihnen groß.
»Wann brechen wir auf?«, wollte Marga wissen.
»Heute ist es dafür schon zu spät. Aber morgen, wenn alles zur Ostermesse in die Kirchen strömt, machen wir uns in aller Herrgottsfrühe auf den Weg nach Niederwerth!«, versicherte Bruder Basilius. »Zum Glück sind es ja nur ein paar Meilen flussabwärts. Und statt über Land bis nach Vallendar zu reisen und erst dort überzusetzen suchen wir uns am besten gleich hier schon einen Fischer oder Fährmann, der uns zur Insel bringt.«
»Da kann ich Euch behilflich sein«, sagte der Maler. »Ich kenne einen verschwiegenen Fischer, für den ich meine Hand ins Feuer legen würde. Das gilt auch für seine beiden Söhne.«
»Gut, dann übernehmt Ihr das«, sagte der Mönch und nun hatte auch keiner etwas dagegen, mit einem Schluck Wein auf die freudige Nachricht anzustoßen.
Als es an der Zeit war sich zur Nachtruhe zu begeben, unterhielten sich Marga und Jakob noch eine ganze Weile im Flüsterton, um Henrik und Bruder Basilius nicht zu wecken, mit denen sie den Raum teilten und die nach dem Nachtgebet fast augenblicklich eingeschlafen waren.
»Jakob?«
»Ja?«
»Hast du dir schon überlegt, was du tust, wenn wir die Dokumente gefunden haben? Ich meine, dann wird doch jeder von uns seine eigenen Wege gehen, oder?«
»Ich weiß nicht. ich meine, ich weiß noch nicht, was ich dann tue«, gestand er, verschwieg ihr jedoch, dass er schon mehr als einmal darüber nachgedacht hatte. »Und du?«
»Ich auch nicht.«
»Uns wird schon etwas einfallen.«
»Uns?«, fragte Marga leise.
Er spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg, und war froh, dass sie es nicht sehen konnte. »Na ja, irgendetwas wird sich schon ergeben«, sagte er ausweichend.
»Ja, vermutlich.« Marga klang irgendwie enttäuscht.
Eine gedankenschwere Stille folgte für ein, zwei lange Augenblicke, die nur von Henriks gleichmäßigem Schnarchen unterbrochen wurde.
»Wenn du möchtest, können wir ja zusammenbleiben und sehen, wohin es uns treibt«, kam dann Jakobs Stimme aus der Dunkelheit, ganz leise, aber doch voll angespannter Erwartung. Er hatte all seinen Mut zusammengenommen und fürchtete nun, zu viel gewagt zu haben.