»Ja, das möchte ich sehr gerne«, flüsterte Marga.
Jakob spürte ihre Hand auf seinem Arm und hielt sie fest. »Ich auch«, raunte er und drückte mit freudig klopfendem Herzen ihre Hand. Und so trug der Schlaf schließlich auch sie in das Land der Träume, Hand in Hand.
Vierunddreißigstes Kapitel
Das Erwachen geschah jäh, rau und Stunden vor dem Morgengrauen. Derbe Stöße und laute Rufe rissen Jakob aus tiefstem Schlaf. Benommen richtete er sich auf. Ins Licht blinzelnd, blickte er sich verstört um.
Bartholomäus Bartholy sprang wie ein wild gewordener Derwisch zwischen seinen Gästen hin und her, in der einen Hand eine Lampe, in der anderen Hand seinen Spazierstock, mit dem er nach rechts und links Schläge austeilte, um sie schneller aus dem Schlaf zu holen.
Marga rieb sich verschlafen die Augen. »Was ist passiert?«, murmelte sie.
»Aufgewacht!«, rief der Maler aufgeregt und mit bleichem Gesicht. »Gefahr ist in Verzug!. Kommt zu Euch!. Ein schreckliches Unglück ist geschehen!«
Bruder Basilius sprang auf und fiel ihm in den Arm. »Wir sind wach, Meister Bartholy. Also redet: Was ist geschehen, dass Ihr so außer Euch seid und uns mitten in der Nacht aus dem Schlaf holt.«
Der Maler sackte auf einen Schemel, als hätte ihn die Kraft von einer Sekunde auf die andere verlassen. »Mein unseliger Geselle, der Kopist Lorenz Biesenfeld, hat Euch an den Domherrn verraten!«, eröffnete er ihnen mit gequälter Stimme. »Wie Judas ist er für einen Beutel Silberlinge zum Verräter geworden und hat sich zu Euren Feinden in den Rosenhof geschlichen! Und jetzt weiß Domherr von Drolshagen, dass die Papiere irgendwo im Kloster auf der Insel Niederwerth versteckt sind!«
»Nein, nicht das!«, stieß Jakob entsetzt hervor.
Henrik fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, seufzte geplagt und sagte: »Man kann nicht seinem Nächsten trauen, denn ihnen glauben heißt: verkauft sein und verloren!«
Marga machte ein bestürztes Gesicht, schüttelte zugleich aber den Kopf, als wollte sie es nicht glauben. »Aber das. das ist doch ganz unmöglich«, stammelte sie. »Das kann nicht sein!. Woher soll er denn vom Rosenhof und von Niederwerth gewusst haben?«
»Er hat uns belauscht!«, antwortete Jakob, der sich sofort an das knarrende Dielenbrett und den Schatten bei der Tür erinnert hatte. Er hatte also doch keine Gespenster gesehen, sondern beinahe Lorenz Biesenfeld beim Lauschen ertappt! Wäre er doch bloß schneller gewesen!
Der Maler nickte und machte eine zerknirschte Miene, als trüge er die Schuld an dem schändlichen Verrat seines Gesellen. »Er hat Euch und Bruder Basilius gestern im Atelier belauscht und sich sofort auf den Weg zur Himmeroder Herberge in der Kastorgasse gemacht«, bestätigte er. »Das einzige Glück im Unglück ist, dass er den Domherrn nicht sogleich angetroffen hat, sondern mehrere Stunden auf ihn warten musste. Und dass dessen Handlanger ihren ersten Abend in Koblenz mit einem ordentlichen Gelage gefeiert haben. Jetzt müssen sie erst ihren Rausch ausschlafen, bevor der Domherr etwas unternehmen und mit ihnen nach Niederwerth aufbrechen kann. Und das ist Eure einzige Chance ihm doch noch zuvorzukommen. Ich werde sofort zum Fischer Conrad Flade.«
»Haltet ein und holt Atem, Meister Bartholy!«, fiel Bruder Basilius ihm nun ins Wort. »Woher wisst Ihr überhaupt, dass Euer Geselle uns an den Domherrn verraten hat?«
Der Maler lachte freudlos auf. »Natürlich von ihm selbst. Ich konnte heute einfach nicht schlafen und bin in den Hof hinuntergegangen, weil mir so war, als machte sich dort jemand bei den Pferden zu schaffen. Doch es war mein Geselle, der betrunken nach Hause gekommen war«, berichtete er. »Ich hätte wohl kaum Misstrauen geschöpft, wenn ihm vor Schreck nicht der Beutel mit dem vielen Geld aus der Hand gefallen wäre. Als ich aber all die Silbermünzen sah, die mehr als einen halben Jahreslohn ausmachten, wusste ich sofort, dass er nicht auf anständige Weise zu so viel Geld gekommen sein konnte. Ich brauchte ihm auch nicht groß zu drohen, damit er mit der Wahrheit herausrückte. Er hat geredet wie ein Wasserfall. Ich habe ihn vor Wut und Scham links und rechts geohrfeigt und bin in meinem Erschrecken über das, was er getan hat, sofort ins Haus gestürzt, um Euch zu wecken. Noch nicht ganz auf der Treppe, kam mir in den Sinn, dass es wohl besser sei Lorenz vorerst in eine Kammer einzuschließen, und ich bin wieder hinaus auf den Hof.«
»Doch da hatte sich Euer Kopist schon aus dem Staub gemacht«, mutmaßte der Mönch grimmig.
»Ja«, sagte der Maler. »Die Schande, die mein Geselle über mich und mein Haus gebracht hat. «
Bruder Basilius ließ ihn nicht ausreden. »Ihr habt Euch nichts zu Schulden kommen lassen, Meister Bartholy. Nicht der geringste Vorwurf kann Euch gemacht werden. Was Euer Geselle getan hat, braucht Euer Gewissen nicht zu belasten. So bitter sein Verrat für uns auch ist, so mindert das jedoch nicht unsere Dankbarkeit für Eure großherzige Gastfreundschaft. Vergesst nicht, dass Jakob sich vielleicht nie wieder an Bruder Anselms Worte erinnert hätte, wenn wir nicht gemeinsam Euer neuestes Werk mit den Distelfinken bewundert hätten! Und damit genug der Worte über Lorenz Biesenfelds Treuebruch. Lasst uns die Zeit lieber dazu nutzen, um zu überlegen, wie wir das Beste aus der verfahrenen Situation machen können.«
»Wir dürfen nicht bis zum Morgengrauen warten, sondern müssen sofort aufbrechen!«, sagte Jakob.
Das meinte auch Henrik.
»So bleiben uns wenigstens ein paar Stunden Vorsprung, was genügen sollte, um die Papiere aus dem Versteck zu holen und von Niederwerth zu verschwinden, bevor der Domherr mit seiner Bande über das Inselkloster herfällt.«
Bruder Basilius nickte und fragte den Maler: »Könnt Ihr uns aus der Stadt bringen und den Fischer, mit dem Ihr befreundet seid, dazu bewegen, schon zu dieser Nachtstunde mit uns nach Niederwerth aufzubrechen?«
Bartholomäus Bartholy nickte eifrig. »Das lässt sich alles arrangieren. Die Nachtwächter am Rheintor kennen die Fischer und Fährleute. Und Georg Flade versteht sich gut mit ihnen. Ihr werdet also keine Probleme haben«, versprach er, was ihre Stimmung wieder hob. »Ich mache mich sofort auf den Weg zu ihm. In einer halben Stunde dürfte ich wieder zurück sein, um Euch zu holen. Haltet Euch also im Hof bereit!«
»Und was wird aus den Pferden?«, wollte Jakob wissen.
Sie besprachen sich kurz. Dann einigten sie sich darauf, dass Bartholomäus Bartholy die Pferde für sie verkaufen sollte. Der Maler bestand darauf, ihnen den Verkaufserlös, den er zu ihren Gunsten hoch schätzte, sogleich vorzustrecken. »Ihr werdet das Geld brauchen, wenn Ihr diese wichtigen Dokumente vor dem Zugriff des Domherrn bewahren und rasch außer Landes bringen wollt!«, sagte er, drückte Bruder Basilius den Geldbeutel in die Hand und eilte dann in die Nacht hinaus.
In weniger als einer halben Stunde kehrte er zurück. Sie warteten im Hof bei den Pferden im Unterstand, ihre wenigen Habseligkeiten geschnürt und geschultert.
»Es ist alles bereit! Die Torwachen sind eingeweiht, bezahlt und werden keine Schwierigkeiten machen und Conrad Flade wartet mit seinem Sohn Gebhard in seinem Boot auf Euch«, teilte er ihnen mit, sichtlich froh ihnen zur Abwechslung mal eine gute Nachricht überbringen zu können. »Kommt, ich bringe Euch zum Tor!«
Unter der Führung des kleinwüchsigen Malers schlichen sie aus dem Hinterhof und durch die nächtlichen Gassen von Koblenz. Ein kühler Wind wehte und der Himmel war klar. Glücklicherweise war es nicht sehr weit bis zum Rheintor. Sie gelangten schon nach wenigen Minuten zum Karmeliterkloster, das nur einen Steinwurf vom Rheinufer entfernt lag.
Die schmale Tür, die in das mächtige Tor aus eisenbeschlagenen Eichenbalken eingelassen war, stand einen Spalt offen. Von den beiden Wachen war nichts zu sehen. Mit klopfendem Herzen schlüpften sie durch die Tür und dann lag auch schon der Rhein in seiner majestätischen Breite vor ihnen.