»Kommt!«, drängte der Maler und lief auf die Anlegestelle zu, wo eine ganze Reihe von Fischerbooten vertäut lag. Das vierte war das von Conrad Flade.
Der Abschied von Bartholomäus Bartholy ging ebenso herzlich wie überstürzt vonstatten. »Ihr werdet es schaffen, Bruder Basilius! Eure mutige Mission wird von Erfolg gekrönt sein, darauf vertraue ich. Ich werde für Euch und Eure Freunde beten. Und nun ins Boot mit Euch!«
Jakob sprang zuerst ins Boot, gefolgt von Marga. Henrik warf ihm seinen Sack zu und Conrad Flade, ein stämmiger Mann mit einem vierkantigen Schädel, der seine äußere Erscheinung offensichtlich seinem Sohn Gebhard vererbt hatte, wies ihnen mit einer knappen Bewegung von Hand und Kopf ganz vorn am Bug einen Platz zu. Henrik und Bruder Basilius hockten sich hinter dem Mast auf die Ducht.
Der junge Flade, der fünfzehn Jahre alt sein mochte, warf auf einen leisen Zuruf seines Vaters die Leinen los und stieß das Boot mit einer Stange vom Steg ab. Der Fischerkahn löste sich aus der Reihe, richtete seinen Bug schräg auf die Flussmitte und wurde fast augenblicklich von der starken Strömung des Rheins erfasst. Die kleine Gestalt des Malers war nur noch einen Moment vor den Mauern der Stadt zu erkennen, dann verschmolz sie mit den tiefen Schatten der Nacht.
»Weißt du, wie weit es bis zu dieser Insel Niederwerth ist?«, fragte Marga leise, während der Fischerjunge hinter ihnen das Segel hochzog. Das dunkle, rostbraune Tuch blähte sich im Wind und sofort merkte man, wie die Kraft auf den Kiel einwirkte und das Boot gleich schneller vorantrieb.
»Nein, aber allzu weit kann es nicht sein«, antwortete Jakob und warf einen Blick auf die Festung Ehrenbreitstein, die sich zu ihrer Rechten auf einem Berg erhob. Das Licht von Fackeln war weithin zu sehen. »Bruder Basilius hat nämlich gesagt, dass die Insel nur wenige Meilen unterhalb von Koblenz in einer Biegung mitten im Strom liegt, wo sich der Rhein nach Westen wendet. Wind und Strömung bringen uns schnell voran. Und so klar, wie die Nacht ist, werden wir die Insel bestimmt schon in Kürze vor uns liegen sehen.«
Das Knarren des Mastes und das Rauschen der Fluten, die an der Bordwand entlangrauschten, klangen in der Stille der Nacht überlaut.
»Osternacht«, murmelte Marga.
»Ja«, sagte Jakob und schaute wie Henrik und Bruder Basilius immer wieder zurück, voller Furcht ein oder gar mehrere Boote auszumachen, die ihnen folgten - mit dem Domherrn und seinen Männern an Bord. Es war nämlich nicht auszuschließen, dass der Geselle noch einmal zum Rosenhof zurückgekehrt war, um in Erwartung einer weiteren Belohnung Melchior von Drolshagen aus dem Schlaf zu holen und ihn von ihrem vorgezogenen Aufbruch zu unterrichten. Wenn er das getan hatte, betrug ihr Vorsprung vielleicht weniger als eine halbe Stunde. Und dann würde dies für sie zu einem Wettlauf gegen die Uhr werden - und zwar auf Leben und Tod!
Breit wälzte sich der Rhein durch die Nacht, um sich dann mit behäbiger Gelassenheit nach Westen zu wenden. Angestrengt starrte Jakob flussabwärts und versuchte die vor ihm liegende Dunkelheit mit seinen scharfen Augen zu durchdringen.
Das Warten zehrte an seinen Nerven und er wusste, dass es Marga, Henrik und Bruder Basilius nicht anders erging. So viel stand auf dem Spiel, nun, da sie dem Ziel zum Greifen nahe waren.
Jakob ertappte sich dabei, dass er ein stummes Bittgebet gen Himmel schickte. Und im nächsten Moment sah er die südliche Spitze der Insel.
»Da!«, rief er aufgeregt und wies auf das, was wie ein schwarzer, buschiger Keil aus dem Wasser aufragte und den Fluss in zwei Arme teilte. »Das muss Niederwerth sein! Stimmt das? Ist das schon die Insel?«
Der Fischer, dessen Wortkargheit jedem monastischen Schweigegelübde alle Ehre gemacht hätte, begnügte sich mit einem Nicken und einem Brummlaut, der wohl eine Bestätigung sein sollte. Dann drückte er die Ruderpinne von sich, sodass das Boot nun aus der Mitte des Stroms glitt und Kurs auf den rechten Arm nahm, der zwischen dem Ostufer der Insel und dem rechtsrheinischen Ufer, wo die Ortschaft Vallendar lag, dahinfloss.
Die Insel Niederwerth, die an beiden Enden spitz zulief und an ihrer breitesten Stelle gut eine halbe Meile maß, war mehrere Meilen lang. Ihr schloss sich flussabwärts eine weitere Insel an, Graswerth genannt, fast ebenso lang, aber im Vergleich zu Niederwerth so schmal wie ein Aal.
Das Ufer war streckenweise mit Pappeln und Weiden bestanden. Dahinter schlossen sich Wiesen und Ackerland an. Hier und dort zeigten sich die Umrisse von kleinen Gehöften. Dann kam das ehemalige Augustiner-Chorherrenstift, das nun von den Zisterzienserin-nen bewohnt wurde, in Sicht. Die Klosterkirche mit ihren beiden unterschiedlich hohen Dachreitern erhob sich in Ufernähe und war auch bei Dunkelheit schon von weitem zu erkennen. Die Südostseite war zur Hälfte von einem Baugerüst eingefasst, das bis zum Dach hinaufreichte.
»Sieh doch mal!«, rief Marga erstaunt. »All die Lichter!«
Ein Meer von Fackeln erhellte das Gelände der Abtei und den Uferbereich, wo an einem schmalen Anlegesteg über ein Dutzend Boote vertäut lag.
»Wir haben wohl genau den Zeitpunkt der Osternachtmesse abgepasst«, vermutete Jakob und sah, wie aus zwei Ruderbooten, die soeben erst angelegt hatten, mehrere Männer, Frauen und Kinder ausstiegen, die wohl aus Vallendar am Festland herübergerudert waren. Er bemerkte nun, dass die Klosteranlage schwere Beschädigungen aufwies, als wäre die Abtei nach einer langen Belagerung von feindlichen Truppen mit dem Rammbock gestürmt worden. Große Teile der Umfassungsmauern waren eingestürzt und mehrere ufernahe Gebäude lagen in Trümmern.
Das Segel fiel und Georg Flade lenkte sein Fischerboot mit einem geschickten Manöver an den Steg. Sein Sohn sprang behände an Land und warf das Bugseil um einen der Pfosten.
»Wartet hier auf uns und haltet Euch bereit!«, trug Bruder Basilius dem Fischer auf und drückte ihm mehrere Münzen in die Hand, obwohl Bartholomäus Bartholy ihn schon entlohnt hatte.
»Haben wir Zeit, um an der Ostermesse der Abtei teilzunehmen?«, brach Georg Flade seine Schweigsamkeit.
Der Mönch schüttelte den Kopf. »Ihr wartet besser hier im Boot.
Es kann sein, dass wir ganz schnell von hier wegmüssen.«
Der Fischer machte eine enttäuschte Miene.
»Beeilen wir uns!«, drängte Bruder Basilius und stieg aus dem schwankenden Boot. Und während sie über den Steg und auf das Kloster zugingen, sagte er leise: »Wir müssen versuchen die Dokumente aus dem Versteck zu holen, noch bevor Nonnen und Inselgemeinde zur Ostermesse in die Kirche einziehen. Denn während der Messe können wir natürlich nicht an das Tafelbild heran, ohne einen Aufruhr auszulösen. Es hängt nämlich auf der Nonnenempore.«
»Nonnenempore? Was ist das?«, fragte Jakob.
»Sie entspricht in etwa dem Chorgestühl der Mönche. Auf dieser Empore nehmen die Nonnen am Gottesdienst teil, getrennt vom Altarraum am entgegengesetzten Ende des Kirchenschiffes und der Gemeinde unter ihnen. Und wer weiß, wie knapp unser Vorsprung ist.«
»Und wie sollen wir das schaffen?«, wollte Marga wissen und im selben Augenblick begann die Klosterglocke zu läuten. »Es sieht doch so aus, als würde die Messe jeden Augenblick beginnen.«
»Wir haben noch etwas Zeit. Erst sammeln sich die Leute auf dem Hof und dann werden vor dem Einzug die Kerzen angezündet, die anschließend in die Kirche getragen werden«, antwortete Bruder Basilius. »Wichtig ist nur, dass wir so schnell wie möglich Schwester Catharina finden, die Priorin. Sie oder die Äbtissin Adelheid von Hefgenstern können dafür sorgen, dass wir die fünf ungestörten Minuten bekommen, die wir brauchen, um die Dokumente hinter dem Marienbild hervorzuholen.«