Für einen Moment glaubten Jakob, Marga, Henrik und Bruder Basilius, dass dieses Paket die brisanten Bekenntnisse der beiden Hexenbischöfe enthielt. Deshalb war ihre Enttäuschung groß, als unter dem Wachstuch ein dickes, in Schweinsleder gebundenes und schon arg mitgenommenes Buch zum Vorschein kam, das unmöglich die gesuchten Papiere enthalten konnte.
»Was ist das?«, wollte Bruder Basilius wissen.
»Ein Exemplar des Malleus Maleficarum. Bruder Anselm hat die ganze Woche von morgens bis abends über dieser Ausgabe des Hexenhammers gesessen und.«
Der Mönch und seine Freunde machten enttäuschte Gesichter. »Ich glaube nicht, dass wir dafür Verwendung haben«, sagte Bruder Basilius.
»Hättet Ihr mich aussprechen lassen, hättet Ihr das wohl kaum gesagt«, entgegnete die Schwester. »Denn Bruder Anselm hat den Hexenhammer nicht Tag und Nacht studiert, sondern er hat wie ein Besessener darin geschrieben.«
»Geschrieben?«, fragten die vier wie aus einem Mund.
Die Priorin nickte. »Ja, und zwar mit einer besonderen Tinte. Erst unter der Hitze einer Kerze tritt die unsichtbare Schrift zwischen den Zeilen und an den Rändern zu Tage«, erklärte sie, schlug das Buch auf und bewegte die Flamme kurz unter einer der Buchseiten hin und her. Augenblicklich erschien eine kleine, aber gestochen scharfe Handschrift, für die man jedoch ein Vergrößerungsglas brauchte, um sie lesen zu können.
»Heiliges Pulverfass, er hat mit Zitronenextrakt oder einer ähnlichen Flüssigkeit geschrieben!«, rief Jakob begeistert.
»Dieser Hexenhammer enthält die komplette Abschrift der Papiere, die er wohl irgendwo hier im Kloster versteckt hat«, fügte Schwester Catharina nun hinzu. »Nicht einmal mir hat er verraten, wo. Doch er hat mir diesen Hexenhammer anvertraut, zur Sicherheit, wie er sagte, falls die Originaldokumente in die falschen Hände fallen sollten. Er wusste, dass Ihr früher oder später kommen würdet.«
Bruder Basilius lächelte erleichtert. »Eine komplette Abschrift! Nun, ein halber Sieg ist besser als eine vernichtende Niederlage. Ich danke Euch, Schwester.« Er zögerte kurz. »Und nun machen wir uns wohl am besten auf den Weg zu dem Boot, das Bruder Anselm versteckt hat.«
»Nicht so eilig!«, rief Jakob. »Wie lange dauert die Messe noch, ehrwürdige Priorin?«
»Bestimmt noch eine Stunde«, antwortete sie. »Wenn der Domherr merkt, dass Ihr aus dem Keller entkommen seid, werdet Ihr schon einen großen Vorsprung haben.«
»Über eine Stunde!«, betonte Jakob. »Das ist doch Zeit genug, um auch noch die Originaldokumente zu holen! Nur sie sind ein Beweis für die Echtheit der Abschrift.«
»Unmöglich!«, widersprach die Priorin. »Auf dem Hof und vor der Kirche sind Wachen postiert. Ohne Kampf kommt Ihr niemals an ihnen vorbei. Und wenn sich die Papiere auf unserer Nonnenempore befinden, wie Ihr sagt, ist das Unternehmen erst recht aussichtslos. In der Kirche führt nur eine schmale Treppe, die zudem noch mit einer Gittertür versehen ist, auf die Empore. Und wie wollt Ihr die Papiere an Euch bringen, während all unsere Schwestern dort oben versammelt sind? Das gäbe einen gewaltigen Aufstand, denn nur unsere Äbtissin und ich sind in die Hintergründe von Bruder Anselms Aufenthalt bei uns eingeweiht.«
»Aber wir könnten doch von oben kommen, über das Dach!«, erwiderte Jakob und sah Bruder Basilius an. »Habt Ihr nicht das Baugerüst gesehen, das gleich hinter der Sakristei bis zum Dach aufragt? Ich wette, es gibt dort oberhalb der Nonnenempore ein Fenster, durch das wir eindringen und uns dann auf die Empore abseilen können. Vorausgesetzt wir können hier auf die Schnelle ein langes Seil auftreiben.«
»Nun ja, solche Fenster gibt es dort schon«, räumte die Priorin ein. »Zwei kleine Luken über dem großen Kirchenfenster im Westportal sowie ein kleines Fenster auf der Nordseite. Zudem befindet sich der kleine der beiden Dachreiter genau über der Empore. Und Seile liegen im ausgeräumten Scriptorium herum, das die Bauarbeiter als Materiallager benutzen und das erst ganz am Schluss renoviert wird. Aber all das ändert nichts daran, dass Ihr während der Messe nicht unbemerkt auf die Empore kommen könnt. Ich weiß also nicht, was Euch das nutzen könnte.«
»Eine ganze Menge!«, versicherte Jakob.
Bruder Basilius zögerte kurz, schüttelte dann aber den Kopf. »Nein, während des Gottesdienstes ist das unmöglich. Und hinterher ist dafür keine Zeit mehr!«
Jakob ließ sich von seiner Idee jedoch nicht so leicht abbringen. Die Vorstellung, so kurz vor dem Ziel aufzugeben und ohne die Originaldokumente zu flüchten, ging ihm gegen den Strich. Hatte er dafür all die Strapazen und Ängste der letzten Wochen ertragen? Nein! Der Domherr durfte einfach nicht über sie triumphieren!
Und statt sich dem Wort des Mönches zu beugen fragte er die Priorin: »Sagt, was geschieht nach dem Gottesdienst, wenn die Empore geräumt ist? Kehren die Nonnen nach der Messe sofort in das Konventsgebäude zurück?«
»Gewöhnlich ja, aber nicht heute«, antwortete Schwester Catharina. »Nach der Ostermesse, in der wir die Auferstehung Gottes gefeiert haben, erwarten wir draußen den Anbruch des neuen Tages, der dann nicht mehr fern ist.«
»Also wird auch der Domherr nicht sofort davonstürzen können!«, folgerte Jakob. »Und da Eure Äbtissin weiß, dass Ihr versucht uns zur Flucht zu verhelfen, wird sie wohl alle Anstrengungen unternehmen, um ihn so lange wie möglich auf dem Hof zu halten, nicht wahr?«
»Ja, das ist anzunehmen.«
»Dann bleibt uns nach der Messe doch noch genug Zeit, um die Papiere zu holen«, sagte Marga.
Jakob warf ihr einen dankbaren Blick zu und führte seine Idee noch etwas näher aus: »Wir haben reichlich Zeit, um auf das Dach zu klettern und uns oberhalb der Empore in Position zu bringen. Sowie die Nonnen die Empore verlassen haben, lassen wir uns am Seil hinab, holen ruck, zuck die Papiere hinter dem Tafelbild hervor, klettern wieder am Seil hoch und sind im Handumdrehen zurück im Kapitelsaalvermutlich noch bevor die Kirche sich ganz geleert und der Domherr draußen auf dem Hof Zeit gefunden hat sich aus der Prozession zu lösen. Am besten, wir verriegeln die Zugänge zum Kreuzgang und verbarrikadieren sie mit Brettern und Balken, von denen es hier ja genug gibt. Dadurch gewinnen wir noch einmal wertvolle Minuten, denn Drolshagens Männer werden erst eine der Türen aufbrechen müssen.«
Henrik nickte mit einem anerkennenden Lächeln auf den Lippen. »Keine üble Idee Jakob«, sagte er. »Leider hat sie nur einen einzigen Schönheitsfehler: Ich bin nicht schwindelfrei. Und Bruder Basilius ist noch viel weniger in der Lage da hoch oben über Gerüst und Dach zu turnen.«
»Wir brauchen für dieses Unternehmen ja auch keine halbe Armee. Das ist eine Sache für eine einzige Person. Ich bin schwindelfrei und ich traue es mir zu!«, erwiderte Jakob entschlossen.
»Ich komme mit!«, erklärte Marga. »Ihr habt mir das Leben gerettet, jetzt möchte ich etwas für Euch tun. Ich bin absolut schwindelfrei und verstehe es, an einem Seil hoch- und runterzuklettern.«
Bruder Basilius nagte an seiner Unterlippe, ganz offensichtlich zwischen Ablehnung und Begeisterung hin- und hergerissen. Einerseits brannte er darauf, die Dokumente zu retten. Andererseits wollte er weder Jakob noch Marga unnötig in Gefahr bringen.
»Ich weiß nicht, ob ich das zulassen darf«, sagte er mit gequälter Miene. »Ich kann es nicht auf mein Gewissen nehmen, Euch da.«
Jakob gab ihm keine Gelegenheit seine Einwände auszusprechen. »Vergesst Euer Gewissen, Bruder Basilius! Dies ist mein Plan und mein freier Entschluss. Und wenn Marga mit mir kommt, dann ist das allein ihre Entscheidung. Wir sind keine kleinen Kinder, die nicht überblicken können, was sie tun!«, erklärte Jakob. »Ich jedenfalls würde mir nie verzeihen, dass ich so nahe am Ziel nicht wenigstens versucht habe die Papiere zu retten.«