Marga nickte. »Die Gelegenheit ist wirklich zu günstig, um sie ungenutzt verstreichen zu lassen! Und vergesst nicht, dass wir mit diesem unterirdischen Tunnel einen gewaltigen Trumpf in der Hand halten. Wir sind ganz sicher schneller wieder hier im Kapitelsaal, als der Domherr und seine Männer in den Kreuzgang stürmen können!«
Bruder Basilius rang mit sich selbst. »Es klingt verlockend, ich gebe es zu. Und wenn Ihr wirklich meint, Ihr könnt es schaffen.« Er hob mit einer verlegenen Geste der Kapitulation die Hände. »In Gottes Namen, versucht Euer Glück!«
Sechsunddreißigstes Kapitel
Jakob stieß die Luke auf, zog sich über den Rand und kletterte auf das Dach. Dann beugte er sich über die Öffnung, nahm Marga die drei Seile ab, die sorgfältig zusammengerollt waren, und reichte ihr seine Hand, um ihr den Ausstieg zu erleichtern.
Henrik, der sie auf den Dachboden über dem Kapitelsaal begleitet hatte, ermahnte sie noch einmaclass="underline" »Geht bloß kein unnötiges Risiko ein!«
Jakob grinste. »An deine Weisung will ich mich halten!«, imitierte er den Schweden. »Denn ich habe weise Räte: deine Worte.«
Henrik lachte, wurde aber sofort wieder ernst. »Und vergesst nicht, zuerst einmal das kurze Seil gut zu verknoten und über das Dach zu werfen, damit Ihr hinterher auch wieder zurück in den Kapitelsaal kommt. Denn wenn Ihr zurückkehrt, wird Schwester Catharina schon längst verschwunden und die Tür von außen abgeschlossen sein. Ihr müsst also über das Dach und durch das Fenster kommen!«
»Deine Weisungen sind mir höchste Freude, dein Wort gehe in mir auf wie Hefe neben einem warmen Herd«, antwortete Jakob mit einem anderen Psalmenvers, den er von Henrik aufgeschnappt hatte.
Der Schwede lächelte, als wüsste er, dass Jakob viel aufgeregter und angespannter war, als er zugeben wollte. Er nickte ihnen stumm zu, dann schloss er die Luke und verriegelte sie von innen.
Marga nahm das kürzere der drei Seile, ging zwei Schritte nach rechts und bewegte sich dann vorsichtig in Richtung Dachkante. Sie löste die Schlinge und warf das Seil über die Kante. Augenblicke später spürte sie ein zweifaches vorsichtiges Rucken am Seil. Mit einem zufriedenen Lächeln drehte sie sich zu Jakob um. »Wir sind genau über dem Fenster des Kapitelsaals!«
»Gleich auf Anhieb? Du hast ein ausgezeichnetes Gespür, Marga!«, sagte Jakob anerkennend, hob hinter ihr zwei Dachpfannen auf und knotete das eine Ende des Seils um den darunter liegenden Balken. Dann zogen sie das Seil wieder ein, rollten es neben der kleinen Öffnung zusammen und beschwerten es mit einem Dachziegel.
»Auf geht’s!«
Sie hängten sich jeder eines der langen Seile quer über die Brust, um die Hände zum Klettern und Abstützen frei zu haben, und schlichen nun in geduckter Haltung über das Dach des Konventsgebäudes. Zu ihrer Rechten schimmerte das silbrige Band des rechtsrheinischen Flussarms. Und heller Fackelschein erleuchtete die Anlegestelle mit den Booten, die gut bewacht waren. Der Dachgiebel zu ihrer Linken verwehrte ihnen dagegen den Blick in den Hof des Kreuzgangs und auf den Platz vor der Kirche.
Vor ihnen ragte das Baugerüst auf, das einen Großteil der Apsis und der Südostseite der Klosterkirche umschloss. Wenig später hatten sie das Gerüst erreicht. Ohne sich eine Atempause zu gönnen, begannen sie den Aufstieg. Bretter, Balken und Leitern knarrten unter ihnen und das Geräusch kam Jakob in der nächtlichen Stille gefährlich laut vor. Zu seiner Erleichterung setzte in der Kirche wieder Gesang ein, in dem das Knarren des Holzes unterging. Schließlich befanden sie sich auf der höchsten Plattform, die knapp oberhalb der Dachkante abschloss. Hier verharrten sie einen Augenblick.
»Ganz schön luftige Höhe«, stellte Jakob mit trockener Kehle fest, als er unter sich schaute. »Von unten sieht es gar nicht so hoch aus. Aber von hier.«
»Herzklopfen?«, fragte Marga.
Jakob wollte erst lügen, bemerkte dann aber ihren Blick, in dem keine Spur von Spott lag, sondern nur aufrichtige Besorgnis. »Ja, ein bisschen schon«, gestand er.
»Ich auch, aber das ist nicht schlimm. Nur ein Dummkopf hätte in solcher Höhe keine Angst«, sagte sie und nahm ihm damit das Gefühl sich schämen zu müssen. »Ein bisschen Angst ist sogar ganz gut. Das schärft die Aufmerksamkeit und schützt vor Leichtsinn -hat mein Vater jedenfalls gesagt.«
Jakob holte tief Atem, dann fragte er: »Wagen wir es?«
Marga nickte. »Aber lass uns erst das Seil anbringen, damit wir auf dem Rückweg schneller vorankommen.«
»Himmel, das hätte ich ja beinahe vergessen!«
Marga legte ihre Seilrolle auf die Plattform und Jakob knotete ein Ende um einen Balken des Baugerüstes. Dann kletterten sie auf das Dach. Marga kroch voraus. Jakob folgte ihr, das lose Ende von Mar-gas Seil hinter sich herziehend.
Ihm schlug das Herz im Hals. Das Dach fiel vom Giebelfirst erschreckend steil ab und die Dachziegel waren feucht vom Morgentau, mit Vogeldreck beschmutzt und zum Teil von einer moosartigen Flechte bedeckt. Ein falscher Tritt, und sie würden in die Tiefe stürzen!
Auch Marga erkannte die Gefahr, in der sie schwebten. Sie verharrte schon nach wenigen vorsichtigen Schritten, wandte sich zu ihm um und raunte: »Hier unten und so nahe an der Dachkante ist es zu gefährlich! Lass uns zum Dachfirst hochklettern. Da haben wir mehr Halt!«
Jakob nickte. »Du hast wohl Recht. Wenn ich bloß schon oben wäre.«, murmelte er.
Auf allen vieren krochen sie nun auf der Höhe des östlichen Dachreiters zum Giebel hinauf. Und obwohl ein frischer Wind wehte, waren sie in Schweiß gebadet, als sie endlich den Dachfirst erreicht hatten. Um sich nicht zu auffällig vor dem Nachthimmel abzuheben, legten sie sich flach und mit gespreizten Beinen hin und robbten dann auf den vorderen, kleinen Turm zu. Aus dem Kirchenschiff unter ihnen kam das vielstimmige Exsultet und Deo gratias der dort versammelten Gläubigen.
Es war eine mühselige Angelegenheit, sich in dieser kriechenden Haltung auf dem Giebel vorwärts zu bewegen. Doch es war der sicherste Weg und er brachte sie schließlich ans Ziel, wenn auch mit schmerzenden Knochen.
Der vordere Dachreiter war ein sechseckiger, mannshoher Turm mit vier bogenförmigen Fensteröffnungen und einem zwiebelförmigen Aufsatz, der von einer lanzenartigen Spitze gekrönt wurde.
Verwitterte, hölzerne Schlagläden verschlossen die Fenster. Jakob drückte Marga das Seil in die Hand, dessen anderes Ende ans Baugerüst geknotet war, griff zu dem breiten Messer, das Henrik ihm mitgegeben hatte, und machte sich an einem der Schlagläden zu schaffen. Wenig später sprang der Wetterschutz auf. »Na also!«, sagte Jakob und kletterte in den Turm. Er kam sich wie in dem Mastkorb eines großen Segelschiffes vor.
Der kleine Turmaufsatz, in dessen Boden eine Luke eingelassen war, bot zwei schlanken Personen ausreichend Platz. Marga stieg zu ihm in den Dachreiter, öffnete einen zweiten Wetterschutz und band das Seil um den Balken zwischen den beiden Öffnungen. Auf dem Rückweg über das Dach zum Baugerüst würden sie sich an diesem Seil entlanghangeln können.
»Drück die Daumen, dass sich die Luke öffnen lässt«, sagte Jakob mit gedämpfter Stimme, bückte sich nach dem eingelassenen Eisenring - und zog daran. Zu ihrer freudigen Überraschung war die Luke unverriegelt und ließ sich ohne große Kraftanstrengung aufklappen.
Marga grinste. »Ein gutes Omen!«
»Ich glaube, wir brauchen das zweite Seil überhaupt nicht«, stell-te Jakob fest. »Hier ist eine Treppe und ich wette, sie bringt uns direkt auf die Nonnenempore. Komm, immer dem Gesang nach!«
Unter der Luke führte eine steile Stiege, die von fleckigen Wänden umschlossen wurde, durch das Dachgebälk abwärts. Mit höchster Vorsicht stiegen sie hinunter. Dabei prüfte Jakob jede Bretterstufe, ob sie auch nicht morsch war, bevor er sich mit seinem ganzen Gewicht draufstellte. Der Gang endete in einem kleinen, dunklen Vorraum mit einer schmalen Tür, die mit dem Rahmen nicht ganz dicht abschloss. Durch eine lange Ritze über dem Schloss sowie unter der Tür drang aus der Kirche helles Licht zu ihnen in die muffige Kammer.