Endlich rutschte die Steinplatte in ihre Einfassung. Henrik nahm Marga die Laterne ab, zwängte sich an ihr vorbei und ging voran. In dem schmalen Gang roch es nach Moder und Verwesung. Der Lichtschein glitt über feuchte, von Schimmelpilz überwucherte Wände, die sich über ihren gebeugten Köpfen zu einer niedrigen Decke wölbten. Ursprünglich bestanden die Mauern aus einem grauschwarzen Gestein, doch je weiter sie sich von der Klosteranlage entfernten, desto schadhafter wurden die Mauern und desto öfter stießen sie auf provisorische Ausbesserungen, die mit einfachen Ziegelsteinen vorgenommen worden waren. Hier und da waren Teile der ausgebesserten Decke wieder eingestürzt und bedeckten den Boden mit ihren Trümmern. Und immer wieder rieselte Sand auf sie herab.
Jakob kämpfte tapfer gegen die Platzangst an, jedoch wuchs in ihm das beklemmende Gefühl immer schlechter Luft zu bekommen, je weiter sie in diesem unterirdischen Tunnel vordrangen.
»Fünfzig Schritte«, meldete Henrik, der an der Spitze ging.
Jakob stöhnte gequält auf. »Bis zum anderen Ufer muss es gut zehnmal so weit sein!«
»Wir schaffen es, wie wir auch alles andere geschafft haben«, raunte Marga und berührte von hinten seine Hand.
Jakob hielt sie fest und zwang sich nur noch auf die Füße des Schweden zu sehen, jeden Schritt mitzuzählen und nicht daran zu denken, dass die Decke einstürzen konnte und das herabstürzende Erdreich sie dann bei lebendigem Leib begraben würde.
Offenbar wurde es auch Bruder Basilius mulmig zu Mute, denn er begann nun laut zu beten. Er fing mit dem 23. Psalm an und Henrik fiel sofort mit ein. Doch ein einziger Psalm reichte nicht für die schier endlos lange Strecke, die sie zurücklegen mussten. Und so folgten weitere Psalme.
Jakob hatte bis dreihundertfünfunddreißig gezählt, als auf dem feuchten Boden unter ihnen Wasserlachen auftauchten. Und diese Lachen wurden tiefer. Bald wateten sie bis zu den Knien im Wasser, das eisig war und ihre Beine ganz taub machte. Jakob rann mittlerweile der Schweiß über das Gesicht und sein Atem ging schnell und flach.
»Es kann nicht mehr weit sein!«, sagte Henrik, um ihnen und sich selbst Mut zu machen. »Gleich muss die Felsgrotte kommen, von der die Priorin gesprochen hat. Wir haben das Schlimmste hinter uns. In ein paar Minuten haben wir es geschafft.«
»Hoffentlich!«, keuchte Jakob.
»Denk doch nur daran, wie der Domherr jetzt vor Wut tobt, weil wir ihm entkommen sind«, versuchte Marga ihn abzulenken, die spürte, wie verzweifelt Jakob gegen das Gefühl der Panik ankämpfte. »Er wird Mundt dafür bitter bezahlen lassen, darauf kannst du Gift nehmen. Und er wird einfach nicht begreifen, wie wir uns scheinbar in Luft haben auflösen können. Schade, dass wir sein Gesicht und sein Toben nicht sehen können! Er wird nie im Leben darüber wegkommen, dass wir ihm quasi unter seiner Nase.«
»Da ist sie! Die Felsgrotte! Dem Herrn sei Lob und Dank!«, schrie Henrik mit einem Überschwang, der in krassem Gegensatz zu seiner sonstigen Selbstbeherrschung stand. Offensichtlich hatte das gebückte Gehen durch den unterirdischen Gang auch an seinen Nerven heftig gezerrt. »Wir sind durch!. Wir haben es geschafft! Wir haben das Westufer der Insel erreicht!«
Bei der Grotte handelte es sich um eine Höhle, die von schweren Felsen und mächtigem Wurzelwerk gebildet wurde, aber gerade mal doppelt so breit wie der Gang war. Durch das Gestrüpp vor der Öffnung schwappte das Wasser des Rheins.
Auf die große Freude, den geheimen Klostertunnel unbeschadet hinter sich gebracht zu haben, folgte ein bitteres Erschrecken, als ihr Blick auf das Boot fiel, das vor ihnen lag, festgebunden an einem in den Boden getriebenen Holzpflock.
»Das soll ein Boot sein?«, rief Jakob. »Das ist ein winziger Kahn, in dem mit Mühe gerade mal zwei Personen Platz haben!«
Einen Augenblick herrschte betroffenes Schweigen. Bruder Anselm hatte ganz offensichtlich nur mit einer einzigen Person gerechnet, die dieses Boot im Notfall benutzen musste!
Nach all dem, was sie zusammen durchgestanden hatten, mussten sie nun feststellen, dass hier das Ende ihrer gemeinsamen Flucht gekommen war. Denn dieses schmale, flache Gefährt konnte nur zwei von ihnen aufnehmen. Und auch dann musste man aufpassen, um den Kahn auf einem so mächtigen Fluss wie dem Rhein nicht zum Kentern zu bringen.
»Jakob. Marga, Ihr nehmt das Boot!«, sagte der Mönch mit fester Stimme.
»Das kommt gar nicht in Frage!«, widersprach Jakob heftig und suchte fieberhaft nach einem Ausweg. »Wir müssen versuchen ein anderes Boot aufzutreiben. Oder wir losen, wer von uns.«
»Seid für einen Augenblick still und hört gut zu, Jakob!«, fiel Bruder Basilius ihm energisch ins Wort, um dann sanfter fortzufahren: »Ihr beide nehmt das Boot, weil es in dieser Situation nicht nur moralisch geboten, sondern auch sachlich notwendig ist. Nein! Unterbrecht mich nicht, sondern lasst mich ausreden! Das gilt auch für Euch, Marga! Wir haben nicht nur die Originaldokumente, sondern auch eine vollständige Abschrift in unserem Besitz, von der Drolshagen nichts ahnt. Und das ist unser großes Glück im Unglück. Denn nun könnt Ihr den Hexenhammer an Euch nehmen und ihn von hier fortbringen, ohne Euch in Gefahr zu begeben. Henrik und ich werden hier bleiben. Und sollte es uns nicht gelingen durch einen glücklichen Zufall doch noch von der Insel zu kommen, dann werden wir die Bekenntnisse der Hexenbischöfe eben dem Domherrn aushändigen.«
»Aber das ist doch Wahnsinn!«, wandte Jakob erregt ein. »Wenn Ihr schon darauf besteht, dass Marga und ich das Boot nehmen, was ich nicht für richtig halte, dann gebt uns doch wenigstens das Original mit!«
Der Mönch schüttelte den Kopf. »Der Domherr mag uns hassen, aber letztlich ist jeder von uns ohne wirkliche Bedeutung für ihn. Er will die Dokumente Jakob. Wenn er sie nicht bei uns findet, wird er Eure Verfolgung aufnehmen. Und das wäre Euer Ende, denn Ihr habt das Glück schon zu oft auf die Probe gestellt. Auf Dauer könnt Ihr seinem mächtigen Arm nicht entkommen, das wisst Ihr so gut wie ich. Aber wenn wir ihm die Originalaufzeichnungen übergeben, wird er sein Interesse an Euch sofort verlieren. Ein Mann wie er hat anderes zu tun und ehrgeizigere Ziele als zwei jungen Landstreichern nachzujagen, denn das seid Ihr für ihn. Ihr seht also, Ihr müsst sowohl das Boot als auch den Hexenhammer nehmen.«
Henrik nickte knapp. »Es ist, wie Bruder Basilius sagt. Unsere Wege müssen sich hier trennen und Ihr müsst das Boot nehmen.«
Jakob blickte mit gequälter Miene von ihm zum Mönch. »Aber wir können Euch doch nicht im Stich lassen!«, begehrte er auf, obwohl er wusste, dass sie Recht hatten und es keinen anderen Ausweg gab.
Bruder Basilius lächelte fast vergnügt. »Oh, Ihr lasst uns nicht im Stich. Im Gegenteil, wir laden auf Eure jungen Schultern eine große Verantwortung, vielleicht sogar eine allzu große Last.«
»Indem wir mit heiler Haut davonkommen und Euch diesem Schlächter überlassen?«, fragte Marga verständnislos. »Nein, das kann ja wohl nicht Euer Ernst sein!«
»Doch, das ist mein Ernst«, versicherte der Mönch ruhig. »Ich will Euch eine scheinbar grausame Geschichte aus dem Talmud erzählen, der hebräischen Religions- und Gesetzeslehre der Juden. Und werdet nicht ungeduldig. Wir haben keine Eile. Denn bis Drolshagen die Suche auch auf diesen Teil der Insel ausdehnt, wird noch viel Zeit vergehen. Und nun zu der Geschichte: Es waren einmal zwei Männer, die durch die Wüste zogen und zu verdursten drohten. Nur einer von ihnen besaß noch eine Kürbisflasche voll Wasser, das für einen ausreichte, um zur rettenden Oase zu gelangen. Sollten sie sich das Wasser nun teilen und beide sterben oder sollte der Mann mit der vollen Kürbisflasche seinen Begleiter sterben lassen und sein Leben retten? Nun, unser allgemeines moralisches Empfinden sagt uns: Teilen und auf die Rettung hoffen! Nicht so der gelehrte Rabbi Akiba. Er legt die Geschichte im Talmud ganz anders aus und sagt, dass kein Mensch über sein Leben verfügen und es opfern darf, wenn es eine Alternative gibt. Deshalb soll der Besitzer getrost sein Wasser trinken und am Leben bleiben. Um alles andere soll und wird Gott sich schon kümmern.«