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Feen Riesen Menschenfresser

Sonntag, 8. September 1619

Alyss steht auf einer steilen Klippe an der Küste. Dicht unter ihr umspielen sanfte Wellen die Felsen. Das Meer glitzert friedlich im Sonnenlicht. In der Bucht unterhalb der Klippe wiegt ein Segelschiff sich sanft auf den Wellen hin und her. Am Heck steht ein Mann, der ihr zuwinkt. Es ist ihr Vater. Das Schiff segelt langsam aufs weite Meer zu, als ein plötzlicher Windstoß die Segel aufbläht. Erst jetzt bemerkt sie, dass sich am Horizont tiefschwarze Wolken türmen, die sich vor die Sonne schieben. Der Wind weht dem Vater die langen Haare ins Gesicht. Schaumkronen beginnen auf dem Wasser unten in der Bucht wie wild zu tanzen.

»Bring den Salamander nach London«, hört sie den Vater deutlich über das Pfeifen des Winds hinweg. »Sei wachsam und pass auf, dass er nicht verloren geht! ... verloren geht! ... verloren geht!«

Die Stimme des Vaters wird immer leiser, bis sie schließlich ganz verklingt. Dann beginnen die Wellen haushoch anzusteigen. Wie eine Nussschale tanzt das Schiff hilflos auf der stürmischen See. Die riesigen Wogen brechen sich tosend an den Felsen. Weit draußen vom Ozean rollt eine gewaltige Welle auf das Schiff zu und hebt es langsam an. Das Segelschiff schlingert kurz auf dem Kamm, dann verschwindet es im Wellental und ist nicht mehr zu sehen.

»Vater!«, schreit Alyss verzweifelt. »Vater!« Die See ist wieder spiegelglatt. Das Schiff des Vaters ist nirgendwo zu sehen. Der Ozean hat es mitsamt der Mannschaft verschluckt. Plötzlich beginnen die Klippen, auf denen Alyss immer noch steht, zu rumpeln. Die Erde bebt und Finsternis sinkt über die Welt. Nur das Beben ist nach wie vor zu spüren. Dann wird alles in ein gleißendes Licht getaucht.

»Er ist aufgewacht«, hörte Alyss eine zarte Stimme neben ihrem Ohr. Sie spürte eine Hand, die sie sachte an der Schulter rüttelte. Schläfrig öffnete sie die Augen. Doch sie war so geblendet von der Helligkeit, dass sie immer noch nichts erkennen konnte. Sie drehte den Kopf und sah in kornblumenblaue Augen, die sie argwöhnisch musterten. Das zierliche Gesicht war von hellblonden Locken umrahmt, die von einem perlenbesetzten Diadem zusammengehalten wurden. Die Frau war winzig. Sie würde Alyss im Stehen höchstens bis zur Hüfte reichen. Aus dem Rücken ihres pfirsichfarbenen Taftkleids sprossen durchsichtige Flügel, die silbern glitzerten.

Zwar hatte Alyss den schrecklichen Albtraum, in dem das Schiff ihres Vaters im Ozean versank, schon mehrmals durchlebt, doch hatte sie noch nie von einer Fee geträumt.

»Du hast im Schlaf gewimmert«, sagte die Fee jetzt leise, während ihre Augen beständig auf Alyss ruhten.

Träumte sie immer noch oder hatte man sie ins Land der Feen verschleppt? Immerhin gab es zahlreiche Geschichten von Feen, die Kinder raubten.

»Der Ju...Ju...Junge ist aufgewacht«, kam eine tiefe Stimme irgendwo von oben.

Alyss stieß einen lauten Schrei aus. Neben der Fee konnte man ein Paar gigantische Schuhe sehen, aus denen wie Baumstämme Beine emporragten. Der Mann war so riesig, dass er seinen Rücken krümmen musste, um nicht durch die Decke des Raums zu stoßen. Jetzt deutete er mit seinem klobigen Zeigefinger auf das Mädchen im Stroh.

»Wo, ko...kommt er her?«

Alyss hatte noch nie im Leben eine so hässliche Person gesehen. Das übergroße Gesicht des Monsters war verschoben, und mitten auf seiner krummen Nase thronte eine haarige Warze. Auf seinem Schädel dagegen wuchsen nur vereinzelte Haare.

»War vielleicht zu spät, um heimzugehen, und er hat deswegen hier geschlafen«, erriet eine Stimme mit starker ausländischer Klangfärbung.

Gleich neben dem Riesen war eine weitere Person aufgetaucht. Dieser Mann hatte zwar eine normale Größe, war jedoch nicht minder furchterregend. Bis auf einen Lendenschurz war er nackt. Seinen Oberkörper und sein Gesicht hatte er mit roten Kreisen und Linien bemalt. Sein Kopf war auf beiden Seiten kahl rasiert, nur einen Streifen rabenschwarzer Haare mitten auf dem Schädel hatte er stehen lassen und mit mehreren bunten Federn besteckt.

Als Alyss sich nach und nach daran erinnerte, was am Vorabend geschehen war, wurde ihr bewusst, dass sie nicht träumte, sondern im Zeltanbau einer der Schaustellerbuden übernachtet hatte. Das gleißende Licht, dass sie geweckt hatte, war nur ein Sonnenstrahl, der durch eine Lücke zwischen den Zeltplanen drang. Auch das noch! Sie ließ ihren Blick von der winzigen Fee über den Riesen zum bemalten Mann schweifen. Hatte einer der Marktschreier nicht für eine Vorstellung mit einem wilden Eingeborenen geworben, dessen Lieblingsspeise Menschenfleisch war? Wieso hatte sie sich ihre Unterkunft nicht sorgfältiger ausgesucht? Sie musste so schnell wie möglich weg von hier.

Fieberhaft versuchte sie, auf die Beine zu kommen, um aus dem Zelt zu fliehen, doch schon im nächsten Augenblick sackte sie mit schmerzverzerrtem Gesicht in die Knie. Ein scharfer Stich war durch ihren Knöchel gefahren. Sie hatte vergessen, dass sie gestern gestürzt war und dabei ihren Knöchel verstaucht hatte. An Flucht war nicht zu denken.

»Du brauchst keine Angst zu haben«, erklärte die Fee freundlich. Sie knickste und verbeugte sich. »Ich bin Prinzessin Aurelia aus dem Land der Feen. Dann deutete sie auf das Monster. »Das ist Hector, der Riese. Keine Sorge. Er sieht zwar zum Fürchten aus, doch er ist absolut harmlos. Er könnte keiner Fliege was zuleide tun.«

Tatsächlich verbeugte sich auch der Koloss und versuchte ein schiefes Lächeln.

»Und das«, fuhr Aurelia fort, » ist Sassacomuwah. Doch wir nennen ihn nur Sassa. Er stammt aus Virginia in der Neuen Welt.«

Auch der wilde Mann verbeugte sich vor Alyss.

»Wir ziehen mit Master Tubney und seiner Frau von Jahrmarkt zu Jahrmarkt und führen Kunststücke vor. Und wer bist du?«

Zwar war sich Alyss immer noch nicht sicher, ob sie den drei seltsamen Menschen trauen konnte, doch mit ihrem verletzten Knöchel würde sie ohnehin nicht weit kommen.

»Ich heiße Al...« Im letzten Augenblick hielt sie inne. Sie durfte ihre wahre Identität nicht preisgeben. Falls Onkel Humphrey nach ihr suchte, käme er nie auf die Idee, nach einem Jungen zu fragen. In Hosen fühlte sie sich in der Großstadt einfach sicherer. »Al für Alfred«, fügte sie deshalb hinzu. Dann begann sie ihren Knöchel zu untersuchen. Obwohl Georges alte Stiefel geräumig waren, schaffte sie es kaum, den Schuh vom Fuß zu ziehen, da der Knöchel dick angeschwollen war. Zudem war er bläulich verfärbt, als hätte sie ihn mit Heidelbeersaft eingerieben.

»Mist!«, fluchte sie zwischen den Zähnen. Wie sollte sie damit durch London humpeln, um den Salamander zu Sir Christopher zu bringen? Das würde sie nie schaffen. Der Salamander! Plötzlich fiel ihr wieder ein, was gestern auf dem Jahrmarkt passiert war. Panisch griff sie nach ihrem Gürtel, doch der Beutel mit dem Salamander blieb verschwunden. Vor ihrem inneren Auge tauchte kurz das Traumbild wieder auf. Der Vater, der ihr vom Schiff aus zuwinkte. Seit dem Schiffbruch hatte sie den gleichen Traum immer wieder geträumt, allerdings war es heute das erste Mal gewesen, dass ihr Vater ihr etwas zugerufen hatte.

»Bring den Salamander nach London! Sei wachsam und pass auf, dass er nicht verloren geht!« Tränen stiegen ihr in die Augen. Wie der Vater war jetzt auch der Salamander spurlos verschwunden. Sir Christopher, der Freund ihres Vaters, war ihre einzige Hoffnung gewesen, Hatton Hall zu retten und Onkel Humphreys Pläne zu unterbinden. Doch sie war nachlässig gewesen und hatte nicht auf den Salamander aufgepasst. Würde ihr Sir Christopher auch ohne das Kennzeichen helfen? Sie fing an, still zu weinen.