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Der Junge blickte ihn inbrünstig an. »Mein Ehrenwort«, erwiderte er ernst und legte seine Hand aufs Herz. »Ich verspreche dir, dass dir nichts geschieht und du frei gehen kannst, sobald ich meinen Salamander wiederhabe.«

»Abgemacht«, log Jack und reichte dem Jungen seine Hand. »Ich bring dich morgen früh hin.«

Jack hatte allerdings nicht die geringste Absicht, den Jungen tatsächlich zu Moll zu führen. Stattdessen heckte er ganz andere Pläne aus. Da der Junge von außerhalb der Stadt kam und sich in London nicht auskannte, war es sicherlich kinderleicht, ihn im Gassengewirr der Vorstadt abzuhängen. Außerdem, wenn Jack alles auf morgen verschob, bot sich vielleicht schon in der Nacht, wenn der Riese und der Wilde schliefen, eine Gelegenheit, aus dem Zelt zu entkommen. Hungrig griff er nach einem Hühnerbein.

Wenig später wies ihm die falsche Fee einen Platz auf dem Boden zum Schlafen zu. Sie reichte ihm eine Decke. Aus seinem Vorhaben, heimlich aus dem Zelt zu schlüpfen, wurde jedoch nichts. Die Schausteller hielten abwechselnd Wache. Schließlich konnte Jack vor lauter Müdigkeit seine Augen nicht mehr offen halten. Er schlief ein und wachte erst am nächsten Morgen auf, als helles Tageslicht durch den Spalt neben der Plane ins Zelt fiel. Er streckte sich gähnend und strich sich das Stroh aus Haaren und Hose. Die anderen waren bereits hellwach.

»Sassa will uns begleiten«, verkündete der Junge, den die Schausteller Al nannten. »Deswegen müssen wir jetzt gleich los, damit er rechtzeitig zur ersten Vorstellung zurück ist.«

Zum Henker! Damit hatte Jack nicht gerechnet. Er hatte beabsichtigt, mit dem Jungen allein loszuziehen. Ein Hofstaat erschwerte seinen Plan.

Der Menschenfresser stand aufbruchsbereit neben dem Jungen. Er hatte seine Kriegsbemalung abgewaschen. Mit Hose, Hemd und Weste sah er nur noch halb so gefährlich aus. Nachdem er noch einen Hut auf seinen Schädel mit der seltsamen Frisur gestülpt hatte, hätte man ihn fast für einen braun gebrannten Seefahrer halten können.

»Kommt das Monstrum etwa auch mit?« Jack deutete mit einer Kopfbewegung zum Riesen.

»Er heißt Hector. Nein, er und Prinzessin Aurelia bleiben hier. Los, komm schon! Wir haben nicht ewig Zeit«, sagte der Junge und schritt auf die Plane zu. Sein Knöchel, der zwar immer noch verbunden war, schien ihm keine Beschwerden mehr zu bereiten, denn das leichte Hinken war kaum sichtbar. Kurz bevor er durch den Ausgang schlüpfte, drehte er sich nochmals um und lächelte dem Riesen und der falschen Fee zu. »Vielen Dank auch!« Dann trat er durch die Öffnung auf die Straße hinaus.

Einen Augenblick später standen die beiden Jungen und der Menschenfresser vor der Rückseite der Zeltbauten. An Flucht war nicht zu denken, denn Jack konnte schon wieder die kräftige Hand des Wilden auf seiner Schulter spüren. Der Junge mit den dunklen Locken eilte durch die schmale Gasse zwischen zwei Zelten auf die Hauptstraße hinaus. Doch plötzlich blieb er ruckartig stehen. Obwohl er sich seine Mütze tiefer ins Gesicht gezogen hatte, sah Jack, wie aschfahl sein Gesicht geworden war. Man konnte die Angst, die ihn erfüllte, förmlich spüren. Was hatte er nur gesehen? Vor wem versteckte er sich?

Jack blickte die Straße entlang. Obwohl die Schaubuden und Imbissstände noch geschlossen waren, herrschte bereits reger Betrieb. Ein Fuhrwerk rumpelte Richtung Verrätertor. Frühmorgens war die einzige Tageszeit, zu der Fahrzeuge während des Jahrmarkts aus dem Süden über die Brücke in die Stadt fahren konnten. Ein Fuhrmann, der stadtauswärts fuhr, feuerte seinen Ochsen an. Ein Reiter galoppierte vorüber. Am Stand gegenüber lud ein Metzger ein geschlachtetes Schwein von seinem Karren. Eine Frau säuberte den Spieß von den Fleischresten des Vortags. Was den Jungen so in Schrecken versetzt hatte, verstand Jack nicht.

»Was ist los?« Auch der Indianer hatte gespürt, dass mit dem Jungen etwas nicht stimmte. Für einen Augenblick achtete niemand auf Jack. Der Griff auf seiner Schulter ließ nach und Jack rannte so schnell er konnte los.

Aussichtslos

Montag, 9. September 1619

Onkel Humphrey! Er galoppierte auf Arrow, Vaters Pferd, die Straße entlang Richtung Brücke. Den braunen Hengst mit dem weißen Stern auf der Stirn hätte sie überall wiedererkannt. War Onkel Humphrey ihr bereits auf der Spur? Was sonst hatte er in London verloren? Plötzlich wurde ihr ganz schwindlig. Der Knöchel, der heute schon viel besser war, begann zu pulsieren und sie musste sich an der Zeltwand festhalten. Aus unerklärlichen Gründen war der Onkel hinter dem Salamander her. Vermutlich hatte er inzwischen erraten, dass Alyss mit ihm auf und davon war. Er hatte auf der Suche nach einem vermeintlichen Schatz den ganzen Garten von Hatton Hall umgraben lassen, da würde er sicher auch alles Erdenkliche tun, um Alyss in der Stadt aufzustöbern. Dass ihr Salamander gestohlen worden war, konnte er ja nicht wissen.

Plötzlich stieß jemand Alyss grob zur Seite. Der Taschendieb rannte an ihr vorbei. Gleich dahinter, schnell wie ein Pfeil, folgte Sassa, der schon einen Augenblick später mit dem Jungen im Schlepptau zurückkehrte.

»Alles in Ordnung?«, fragte Sassa, als er Alyss, immer noch regungslos, neben der Bude vorfand.

Sie nickte, während sie nach dem Onkel Ausschau hielt. »Mir war nur schwindlig.« Auf den Zinnen des Brückentors konnte man die aufgespießten Köpfe sehen, die in der Morgensonne glühten, doch Arrow und sein Reiter waren verschwunden. Alyss atmete tief durch.

»Worauf warten wir noch«, meinte sie, und gleich darauf zogen sie mit dem Taschendieb Richtung Brücke.

»Hier lang«, sagte der Junge nach einer kurzen Zeit schroff.

Kurz vor dem Brückenhaus bogen sie in eine Gasse ein, die so schmal war, dass sich die überhängenden oberen Stockwerke fast berührten. Jede freie Stelle war bebaut, nicht wie in Hatton Hall, wo es außer dem Haupthaus nur die Ställe und den Taubenschlag gab. Auch die Gerüche waren anders. Zu Hause duftete es im Frühjahr im Garten nach Blumen, im Sommer nach frisch gemähtem Gras, im Herbst nach Laub. Sicher, im Pferdestall roch es auch nicht besonders gut, doch der Gestank hier war reinweg ekelhaft. Bald zweigten sie abermals ab. Die nächste Gasse sah für Alyss genau wie die erste aus, und gleich darauf ging es schon wieder um die Ecke. Sie war froh, dass Sassa bei ihr war, denn allein würde sie aus diesem Labyrinth nie wieder herausfinden. Ob das genau das war, was der Dieb im Schilde führte? Sassa schien das Gleiche zu denken.

»Trau dich ja nicht, uns an der Nase herumzuführen.«

In diesem Augenblick versuchte sich der Junge loszureißen, doch der Indianer hielt ihn mit eisernem Griff fest.

»Bring uns zum Salamander oder wir bringen dich zur Wache.« Obwohl er heute keine Kriegsbemalung trug, sah Sassa dabei so bedrohlich aus wie am Vorabend, als er auf der Bühne die Beile geschwungen hatte. Auch der Junge hatte wohl den Blick bemerkt, denn fortan lief er mit hängenden Schultern resigniert neben dem Indianer her. Er hatte eingesehen, dass es unter Sassas Adleraugen unmöglich war zu entwischen.

»Mir bleibt ja wohl nichts anderes übrig, mit dem ollen Menschenfresser als Kindermädchen«, maulte er. »Aber wer garantiert mir, dass ihr nicht hinterher mich und meine Freunde bei der Wache verpetzt?«

»Ich hab dir mein Ehrenwort gegeben«, erwiderte Alyss. »Oder hast du das schon vergessen?«

Der Taschendieb hatte die Flucht tatsächlich aufgegeben, denn wenig später hielten sie vor einem Laden an, über dem drei eiserne Kugeln hingen, dem Zunftzeichen der Pfandleiher. Alyss hatte von solchen Leihhäusern gehört. Wenn Leute in Geldnot waren, konnten sie dort ihre Habseligkeiten zeitweilig hinterlegen und bekamen dafür Geld geliehen. Hatte der Junge den Salamander etwa verpfändet? Ein Mädchen, etwas älter als Alyss, war gerade dabei, die Fensterläden des Geschäfts zu öffnen. Sie blickte auf, als sie die Gruppe hörte.