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Jack war gut im Klettern. Es wäre ein Kinderspiel, sie zu erklimmen und in den Garten auf der anderen Seite zu springen. Er musste sich dazu nur an einem der Äste, die über die Mauer hingen, hochziehen. Der einzige Nachteil war, dass er für alle deutlich sichtbar sein würde.

Er blickte die Hauptstraße entlang, wo um die Mittagszeit viel Verkehr herrschte. Karren fuhren vorüber und Fußgänger eilten in beide Richtungen. Gerade rannte eine Gruppe von Schülern dicht an den beiden Jungen vorüber. Die Buchstabentafeln, die sie an Bändern um den Hals trugen, hüpften auf und ab. Ein plötzlicher Windstoß kam auf und wirbelte Staub durch die Straße. Der schwarze Hut eines Mannes flog in die Luft und rollte wie ein Rad auf die Brücke zu. Die Schüler lachten, der Mann beschimpfte sie kurz, dann rannte er seinem Hut hinterher. Ein Reiter ritt in westlicher Richtung, wo am Ende der Straße die Fleet, ein schmutziges Rinnsal, in die Themse mündete.

Bridewell, das gefürchtete Erziehungsheim, dachte Jack schaudernd, stand gleich auf der anderen Seite. Weder der Reiter noch die anderen Passanten schienen die beiden Jungen zu beachten. Nur eine Dienstmagd, einen Henkelkorb am Arm, musterte sie misstrauisch, ging jedoch wortlos weiter. Jack musste es riskieren. Wenn das Fuhrwerk, das gerade mit klappernden Rädern vorüberfuhr, sie passiert hatte, würde er über die Mauer klettern.

»Du bleibst hier stehen und rührst dich nicht vom Fleck, bis ich wiederkomme«, wies er Tommy an, der immer noch an seinem Mandeltörtchen knabberte.

»Aber«, wandte Tommy ein, doch Jack ließ ihn nicht zu Wort kommen.

»Warte, bis die Glocke dreimal schlägt.« Er wusste, dass man von hier aus die Kirchenglocken von St. Pauls hören konnte. »Wenn ich bis dann nicht wieder raus bin, geh zurück zu Maggie.«

Tommy schluckte, und obwohl ihm die Angst immer noch vom Gesicht abzulesen war, nickte er folgsam. Dann plötzlich hob er seinen Arm und deutete auf die andere Straßenseite.

»Guck! Der Junge! Der ist gestern mit dem Menschenfresser im Laden gewesen. Ich hab ihn oben von der Treppe aus gesehen.«

Tatsächlich, der dunkelhaarige Junge vom Jahrmarkt war vor dem Haus stehen geblieben und blickte zögernd die Fassade hoch. Der Wind wehte ihm die Haare ins Gesicht, seine Mütze hatte er abgenommen und hielt sie in der Hand. Der Wilde war nirgendwo zu sehen. Was wollte er hier? Hatte man ihn, wie Will Cooke, mit einer falschen Botschaft hierher geschickt? Da Jack seinen Beutel geklaut hatte, nahm er an, dass der Junge sonst nichts besaß. Vermutlich hatte er für ein paar Münzen leichtgläubig einen Botengang angenommen, ahnungslos, was ihn hinter der schweren Eichentür erwartete. Jetzt griff der Junge nach dem Türklopfer. Man konnte das laute Klopfen sogar von der anderen Straßenseite hören.

Obwohl Jack ihm immer noch die Schuld gab, dass er gestern den ganzen Tag Spiegel poliert hatte, konnte er nicht zulassen, dass dem Jungen etwas geschah.

»He«, rief er, doch der andere hörte ihn nicht.

Im nächsten Augenblick wurde die Tür geöffnet. Der Junge wechselte ein paar Worte mit einer Dienstmagd, und bevor Jack auf die andere Straßenseite rennen konnte, um ihn zu warnen, war er in die Eingangshalle getreten und die Tür fiel schwer hinter ihm ins Schloss. Es war zu spät. Der Junge war in die Fänge des Zauberers geraten.

Ratten

Dienstag, 10. September 1619

Als Alyss es nach dem ersten Versuch mit Sassa am Dienstagmorgen abermals bei Sir Christopher versuchte, war ihr gleich aufgefallen, dass die Vorhänge hinter den Fenstern im Parterre aufgezogen waren. Hoffnungsvoll hatte sie geklopft. Tatsächlich war jemand zu Hause. Eine mollige Frau in Haube und Schürze hatte die Tür geöffnet und sie freundlich angelächelt. Alyss wusste nicht, ob es das freundliche Lächeln oder die Tatsache war, dass sie ihr sagte, dass ihr Herr immer noch verreist sei. Vielleicht erinnerte sie die Frau auch an die liebe Beth, die sich früher um sie gekümmert hatte, bevor die Ratcliffs in Hatton Hall einzogen. Jedenfalls hatte sie es nicht geschafft, die Tränen zurückzuhalten, sosehr sie sich auch bemühte, und als die Frau ihr dann noch mitfühlend die Hand tätschelte, war es ganz um sie geschehen. Kurz entschlossen hatte die Dienstmagd das weinende Mädchen gebeten einzutreten. Gleich in der Eingangshalle hatte Alyss der fremden Frau dann schluchzend berichtet, was geschehen war, und dass sie kein Junge, sondern ein Mädchen in Jungenkleidern war und dass Sir Christopher ihre einzige Rettung sei. Die Haushälterin hatte aufmerksam zugehört und dann gemeint, dass der Assistent ihres Herrn bereits heute früh wieder in London eingetroffen sei. Vielleicht wüsste er ja, was zu tun war.

Jetzt schritt Alyss unruhig in der dunklen Eingangshalle des großen Hauses auf und ab. Sie hatte aufgehört zu weinen, war innerlich jedoch immer noch aufgewühlt. Würde der Assistent sie überhaupt empfangen? Er hatte sicher keine Ahnung von dem, was ihr Vater mit Sir Christopher ausgemacht hatte. Aber selbst wenn, gab es keinen Anlass, einem dahergelaufenen schmutzigen »Straßenjungen« zu glauben. Nicht jeder war so mitfühlend wie die Haushälterin, die sie ohne jeglichen Argwohn ins Haus eingelassen hatte. Plötzlich fühlte sich Alyss beobachtet, aber die Halle war leer. Nur das Gemälde an der Wand neben der breiten Treppe verursachte ein beklemmendes Gefühl. Es war das Porträt eines Mannes mit einem langen, grauen Bart. Er war ganz in Schwarz gekleidet und trug eine altmodische, steife Halskrause. Ganz egal, welche Richtung Alyss in der finsteren Halle einschlug, er verfolgte jeden ihrer Schritte mit seinen Augen. Obwohl sie es zu vermeiden suchte, wanderte ihr Blick automatisch immer wieder zu dem Gemälde, bis plötzlich etwas anderes ihre Aufmerksamkeit auf sich zog.

Über einer Doppeltür, links neben der Treppe, hing etwas, das wie ein Wappenschild aussah. Wappen waren nichts Besonderes. Auch in Hatton Hall hingen die Familienwappen ihrer Vorfahren an den Wänden. Gewöhnlich waren Löwen, Drachen, Adler und ähnliches Getier abgebildet. Einen Salamander hatte sie jedoch noch nie gesehen. Alyss stellte sich auf die Zehenspitzen, um das Bild genauer zu betrachten. Ein Reptil war darauf abgebildet, das scheinbar unversehrt aus lodernden Flammen emporstieg. Der Rand des Bildes war beschrieben, doch die Worte stammten aus einer Sprache, die sie nicht kannte. Waren sie mit den Schriftzeichen auf dem goldenen Salamander identisch? Sie konnte sich nicht genau erinnern. Ob es zwischen den beiden Tieren eine Verbindung gab? Oder war es nur Zufall, dass in Sir Christophers Haus das Bild eines Salamanders hing und Vater sie mit dem Schmuckstück zu ihm geschickt hatte?

Der Gedanke an den gestohlenen Salamander versetzte ihr einen Stich. Ob die merkwürdige Moll aus dem Pfandhaus tatsächlich versuchen würde, das goldene Tierchen zurückzukaufen? Gleichzeitig musste Alyss an ihren Vater denken. Vergangene Nacht, im Jahrmarktszelt, hatte sie wieder von ihm geträumt. Wie immer sah sie, wie der Sturm sein Schiff verschlang. Als sie aufwachte, toste der Orkan immer noch. Es hatte einen Augenblick gedauert, bis sie gemerkt hatte, dass sie nicht mehr träumte, sondern dass tatsächlich ein heftiger Wind aufgekommen war, der die Planen der Jahrmarktszelte schüttelte. Es war ihre dritte Nacht, die sie bei den Jahrmarktsleuten verbracht hatte. Nachdem sie am Vortag vergeblich am Haus am Fluss angeklopft hatten, hatte Sassa darauf bestanden, dass sie mit ihm zurück zum Jahrmarkt kam und solange dort blieb, bis Sir Christopher von seinen Reisen zurückgekehrt war. Ihre neuen Freunde hatten Alyss offenherzig aufgenommen und Essen und Schlafstätte einmal mehr mit ihr geteilt. Wieder blickte sie zum Salamander hoch. Vater hatte sich geirrt. Der goldene Salamander war bestimmt kein Glücksbringer, denn bisher hatte er ihr nichts als Pech gebracht.