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»Falls sie hier auftauchen sollte«, fuhr der Onkel fort, »glaubt ihr kein Wort. Sie ist bekannt für ihre Lügengeschichten und würde Euch vermutlich auch nur Märchen auftischen.« Er hielt kurz inne. »Es wird Euch sicher interessieren, dass ich eine Belohnung für ihre Auffindung ausgesetzt habe.«

Francis Milton stand nachdenklich auf und schritt auf die Tür, hinter der Alyss kauerte, zu. Ihr Herz schlug bis zum Hals. Sie blickte zum Fenster, das nicht wie die Fenster auf der Straßenseite vergittert war. Durch die Butzenscheiben konnte man die Themse und die Häuser am gegenüberliegenden Ufer sehen. Ein Sprung in den Fluss kam nicht infrage, denn sie konnte nicht schwimmen. Sie war den beiden Männern hilflos ausgeliefert.

»Und was hat sie gestohlen?« Milton hatte auf halbem Weg angehalten und sich wieder umgedreht, sodass Alyss vom Schlüsselloch aus nur noch seinen Rücken sehen konnte.

»Ein wertvolles Schmuckstück meiner Frau, einen kleinen goldenen Salamander«, erklärte Onkel Humphrey.

Dieser Lügner! Alyss war nahe daran, durch die Tür zu stürmen und sich auf den Onkel zu stürzen.

»Na gut«, hörte sie den Assistenten daraufhin. »Sobald Sir Christopher zurück in der Stadt ist, werde ich ihm mitteilen, was geschehen ist. Sollte das Mädchen in der Zwischenzeit hier auftauchen, dann werde ich Euch selbstverständlich einen Boten nach Hatton Hall schicken.«

»Das ist nicht nötig«, meinte Onkel Humphrey. »Ich habe ohnehin noch ein paar Tage in der Stadt zu tun. Allerdings wäre es sehr zuvorkommend, wenn Ihr mir eine Nachricht in den Gasthof Zum Weißen Hirschen in Southwark schicken könntet. Ich habe für die nächste Zeit dort ein Zimmer gemietet.«

Alyss atmete tief durch. Sie war noch einmal heil davongekommen. Sobald der Onkel sich verabschiedet hatte, stürmte sie ins Nebenzimmer.

»Dieses Lügenmaul!«, rief sie. »Glaubt ihm kein Wort. Von wegen Schmuckstück seiner Frau! Mein Vater hat mir den Salamander als Glücksbringer und Erkennungszeichen gegeben, um ihn im Notfall zu Sir Christopher zu bringen.«

»Nun beruhige dich«, erwiderte der Mann. »Ich glaube dir ja. Oder hätte ich deinen Onkel sonst wieder weggeschickt?«

Alyss seufzte erleichtert auf. Sir Christophers Assistent hatte sie dem Onkel nicht ausgeliefert. Sie konnte ihm trauen.

»Und jetzt zeig mir endlich den Salamander«, befahl er, und seine Stimme klang plötzlich gar nicht mehr freundlich, sondern irgendwie kalt.

»Den Salamander?« Oje. Er konnte ja noch nicht wissen, dass der Salamander verschwunden war. Bevor Alyss ihm den Teil ihres Abenteuers berichten konnte, war Onkel Humphrey hereingeplatzt. In Stichworten schilderte sie jetzt, was vorgefallen war, doch Francis Milton schien sie nicht zu verstehen.

»Los, gib ihn mir!« Ungeduldig streckte er die Hand aus.

»Aber ich habe Euch doch gerade gesagt, dass ich ihn nicht mehr habe. Er wurde gestohlen.«

»Dein Onkel hat wohl doch recht, dass du eine Lügnerin bist«, meinte Milton. »Sag schon, wo du das Stück versteckt hast! Und tu nicht so, als sei der Salamander nicht wertvoll. Ich weiß genau, was es damit auf sich hat.« Er begann an ihrem Wams zu zerren. Sein zuvor freundliches Gesicht war nicht mehr wiederzuerkennen. Einen Augenblick lang schien er wie verhext. Dann sammelte er sich wieder.

»Na gut, dann leiste Widerstand. Es wird dir nichts bringen. Dein Onkel wird sich sicher freuen, sein entlaufenes Lämmchen wiederzusehen.« Er packte Alyss am Arm und zog sie aus der Bibliothek in den Gang hinaus.

»Aber ...«, begann sie, doch Milton unterbrach sie abrupt.

»Sei still oder dir wird noch Schlimmeres passieren, es sei denn, dir fällt doch noch ein, wo der Salamander ist.« Dann schob er sie unsanft den Gang entlang.

Alyss verstand die Welt nicht mehr. Francis Milton war wie ausgewechselt. Jetzt zerrte er sie durchs Haus, um mehrere Ecken herum und eine schmale Stiege hinab, bis sie vor einer Tür anhielten.

»Bitte liefert mich nicht Onkel Humphrey aus«, flehte Alyss, dann wurde sie grob in eine Kammer gestoßen und die Tür wurde geschlossen. Sie hörte noch, wie sich ein Schlüssel im Schlüsselloch drehte, danach verklangen Miltons Schritte. Was war nur plötzlich in den Mann gefahren? Und was hatte es mit diesem verflixten Salamander auf sich, dass jeder ihn unbedingt besitzen wollte?

Alyss sah sich in ihrem Gefängnis um. Durch ein schmales, vergittertes Fenster drang nur wenig Tageslicht. Die Scheiben klirrten leise im Wind, der immer noch um die Häuser fegte und die Segel der Flussboote aufblähte. Bis auf einige Kisten, die an der Wand neben dem Fenster standen, war der Raum leer. Doch woher kam dann dieser scharfe Geruch, der ihr fast den Atem nahm? Deutliches Rascheln, gefolgt von leisem Fiepen, ließ Alyss auffahren. Es kam aus einer der Kisten, an deren Vorderseite ein Gitter aus Draht angebracht war. Sie ging näher heran, dann schrie sie laut auf. Hinter dem Gitter wimmelte es vor Ratten.

»Hilfe! Lasst mich hier raus!«, brüllte sie. Doch niemand hörte sie.

Im Zauberhaus

Dienstag, 10. September 1619

Der Junge kam nicht mehr aus dem Haus. Sie warteten und warteten. Es war fast so, als hätte ihn das unheimliche Gebäude verschluckt. Was hatten sie dort mit ihm angestellt? Welche Experimente führte der Zauberer durch, für die er Kinder brauchte? Auch wenn Jack nur noch wenig Lust verspürte, selbst ins Haus des Zauberers zu gehen, konnte er das nun keinen Augenblick länger aufschieben. Er musste herausfinden, was in dem düsteren Bau vor sich ging. Gerade als er die Straße überqueren wollte, um die Mauer genauer in Augenschein zu nehmen, klopfte ein weiterer Besucher an, den die Dienstmagd eintreten ließ.

»Ich mag das Haus nicht«, quengelte Tommy neben ihm. »Ich will weg hier.« Er hatte sein Mandeltörtchen längst verzehrt und kaute stattdessen nervös an seinen Fingernägeln.

»Nun hör mir mal gut zu.« Jack musterte den Kleinen gereizt. »In dem Haus wohnt ’n Mann, der Kinder klaut. Mein kleiner Bruder ist vermutlich in dem Bau. Ich muss ihn da rausholen. Also reiß dich gefälligst zusammen.«

»Aber wenn er dich auch in ’ne Ratte verwandelt?«

Verflucht noch mal! Wieso hatte Moll den Neuen ihm und nicht einem anderen der Bande zugeteilt. Jack hatte wirklich Wichtigeres zu tun, als Kindermädchen zu spielen. Er kramte in seinem Beutel, um ihm mehr Geld zu geben. »Hol dir noch was vom Bäcker.«

»Aber ich hab keinen Hunger mehr. Ich will heimgehen.« Tommy war den Tränen nahe. »Bitte, geh da nicht rein.«

»Nun mach dir mal deswegen nicht gleich in die Hose.« Tommy tat ihm zwar leid, doch er konnte sich nicht länger aufhalten lassen. »Ich komm so schnell wie möglich wieder raus. Ehrenwort!«

Auf der anderen Straßenseite öffnete sich die Haustür. Doch es war nur der dicke Mann von zuvor. Er setzte seinen Hut auf und schritt eilig in Richtung Brücke. Der Junge vom Jahrmarkt blieb verschwunden.

»Rühr dich nicht von der Stelle«, wies Jack Tommy noch an. Danach ließ er ihn neben der Bäckerei stehen.

In der schmalen Gasse, die zwischen den Gebäuden von der geschäftigen Straße zum Fluss hinabführte, war viel weniger Betrieb. Nur am Ufer stand ein Mann, der gerade nach einem Fährmann rief. Der Wind wirbelte einige Blätter auf. Sonst war nichts zu sehen. Jack blickte zurück zur Straße. Von dort würde jeder sehen können, was in der Gasse vor sich ging, aber er hoffte, dass die Leute anderweitig beschäftigt waren. Vor der Auslage des Zuckerbäckers standen zwei Frauen, deren Röcke sich im Wind wie Segel bauschten. Unbehelligt vom stürmischen Wetter, schwatzten sie angeregt. Andere Passanten eilten die Hauptstraße entlang, niemand nahm von dem Jungen neben der Mauer Notiz. Nur Tommy beobachtete ihn besorgt von der anderen Straßenseite aus, während er an seinen Fingernägeln kaute. Jack rüttelte an der kleinen Pforte, aber wie er schon vermutet hatte, war sie verschlossen. Die Mauer dagegen würde er tatsächlich mühelos hinaufklettern können, denn der alte, lose Mörtel bot ideale Stufen für Füße und Hände. Die beiden Frauen waren immer noch ins Gespräch vertieft. Jetzt oder nie! Jack begann flink das alte Gemäuer hochzuklettern, packte einen Ast, schwang sich über die Mauer und landete kurz darauf auf dem weichen Gras neben dem Apfelbaum.