Der Garten war leer. Neben der steinernen Sonnenuhr in der Mitte hatte jemand einen Korb abgestellt, halb voll mit Fallobst. Auf der anderen Seite, hinter einem Brunnen, der mit einem Holzdeckel abgedeckt war, lag eine ordentliche Reihe von Gemüsebeeten. Alles sah friedlich aus, bis auf die Fassade des Gebäudes, die mit ihren vergitterten Fenstern zum Garten hin ebenso bedrohlich aussah wie auf der Straßenseite. Hier einzusteigen war unmöglich, allerdings führten mehrere Steinstufen zu einer Tür hoch, die nur angelehnt war. Genau in dem Augenblick, als Jack darauf zugehen wollte, schwang sie auf und eine Frau mit Haube und Schürze trat in den Garten. Er erkannte die rundliche Dienstmagd, die den Jungen eingelassen hatte. Jetzt ging sie fröhlich summend, einen Korb am Arm, auf den Küchengarten zu. Den Eindringling hinter dem Stamm des Apfelbaums bemerkte sie nicht. Solange sie hier im Garten war, hatte Jack dennoch nicht die geringste Chance, ungesehen ins Haus des Zauberers zu gelangen, denn der Pfad zur Tür lag direkt in ihrem Blickfeld.
Gemächlich fing die Frau an, Erbsenschoten zu pflücken, die sich im Gemüsebeet um ein Spalier aus Weidenruten wanden. Hin und wieder öffnete sie eine der Schoten und steckte sich die Erbsen eine nach der anderen genussvoll in den Mund. Nachdem sie genug Erbsen gepflückt hatte, begann sie Radieschen aus der Erde zu ziehen und in ihren Korb zu legen. In der Zwischenzeit stand Jack dicht an den Baumstamm gedrängt und wartete. Von der anderen Seite der Mauer drangen die Geräusche der Stadt nur gedämpft in den Garten. Die Stimmen der Schiffer, klappernde Wagenräder, Pferdehufe wie aus weiter Ferne. Selbst der Wind, der immer noch durch die Gassen pfiff, schien vor der hohen Mauer haltzumachen. Nur die Blätter der obersten Obstbaumäste rauschten. Plötzlich zerriss ein ohrenbetäubendes Kreischen die scheinbare Idylle. Eine Elster kam direkt auf den Apfelbaum zugeschossen und ließ sich im Geäst nieder. Die Frau blickte von ihrer Arbeit auf, der Elster hinterher, doch Jack, der mit klopfendem Herzen hinter dem Stamm kauerte, entdeckte sie immer noch nicht. Der Vogel zeterte weiter im Baum, bevor er über die Mauer davonflog. Gleich darauf hörte man ein lautes Klopfen. Es kam von einer zweiten Pforte an der Flussseite des Gartens. Jack vermutete, dass dahinter die Anlegestelle für Boote lag.
»Joan! Bist du im Garten?«
»Ja«, rief die Frau, wischte sich die erdigen Finger an der Schürze ab und ging auf die Pforte zu.
Von seinem Versteck aus konnte Jack sehen, dass der Ausgang tatsächlich zu einer privaten Anlegestelle führte. Ein Ruderboot schaukelte dort in der Strömung auf und ab. Der Bootsmann war ausgestiegen. In seiner Hand hielt er zwei geschlachtete Kaninchen an den Hinterläufen.
»Für ’n Kochtopf von Sir Christopher.«
»Danke, Ben«, meinte die Frau. »Er ist noch gar nicht zurück, hat sich verspätet.« Sie holte ein paar Münzen aus der Rocktasche und reichte sie dem Mann.
»Na, je länger du die Tiere abhängen lässt, umso besser schmecken sie. Hat Jim die Ratten geliefert?«
»Schon heute früh.« Sie verzog ihr Gesicht vor Ekel. »Da dran werde ich mich nie gewöhnen.«
»Allmächtiger! Lebendige Ratten!« Auch der Mann schüttelte ungläubig den Kopf, während er die Münzen in einen Beutel steckte. »Ich werde auch nicht schlau draus. Für was braucht er die nur? Jeder gottgläubige Mensch sieht die Biester doch lieber tot.«
»Dem Himmel sei Dank hab ich ansonsten nichts damit zu tun«, meinte die Frau. »Master Milton kümmert sich drum. Er braucht das Ungeziefer für seine Experimente. Wie geht’s Anne? Ist das Kind nicht bald fällig?«
Die beiden fingen an, über alles Mögliche zu plaudern. Jack sah seine Chance. Er rannte quer durch den Garten auf die offene Haustür zu und schlüpfte ins Haus. Er war in der Waschküche gelandet. Über dem Herd stand ein riesiger Kupferkessel. Vermutlich wurde hier auch das Geschirr gespült, denn in einem Steinbecken stapelten sich schmutzige Schüsseln. Der einzige Weg aus dem Raum schien der schmale Durchgang neben einem Regal voller Flaschen zu sein. Dort roch es nach frisch gebackenem Brot, und wie Jack vermutet hatte, führte er direkt in die Küche. Auf einem großen Tisch lagen auf einem Holzrost mehrere Laibe Brot zum Abkühlen. Er war hungrig und hätte gern etwas gegessen, doch dazu war keine Zeit. Stattdessen musste er schleunigst nach Ned und den anderen vermissten Kindern suchen, bevor die Dienstmagd aus dem Garten zurückkam und ihn auf frischer Tat ertappte. Er sah sich vorsichtig um. Möglicherweise gab es hier noch anderes Personal, ganz abgesehen davon, dass er nicht dem Zauberer in die Hände laufen wollte. Aber die Küche war leer.
Von der Küche führte ein weiterer Durchgang auf einen langen Korridor mit unzähligen Türen. Es war so still. Nur die Fenster klirrten leise im Wind. Die mit weißen Leintüchern verhüllten Möbel im Gang verliehen dem Haus eine gespenstische Stimmung. Am anderen Ende des Flurs führte eine schmale Wendeltreppe nach oben, dahinter zweigte ein weiterer Gang ab. Auch wenn es aussichtslos schien, würde Jack einfach systematisch jede Tür öffnen und das Korridorlabyrinth absuchen. Der erste Raum war leer, im zweiten stand ein Bett, im dritten eine Truhe und ein Tisch mit Stühlen, ein anderer Raum war von oben bis unten mit Büchern vollgestopft.
So leise wie möglich schlich er weiter den Korridor entlang, als ihn ein Geräusch, das vom Gang hinter der Wendeltreppe kam, aufhorchen ließ. Auf dem Steinboden waren deutlich Schritte zu hören. Hastig blickte er sich um, aber die verhängten Möbel waren zu weit weg, um sich dahinter zu verstecken. Die Schritte kamen stetig näher. Es blieb nur eine Möglichkeit. Jack öffnete die nächste Tür auf der linken Seite und schlüpfte in das Zimmer. Fast hätte er laut aufgeschrien.
Von der Decke, an einem Balken, hing ein Monster, das seine riesigen, scharfen Zähne bleckte und ihn bestialisch anstarrte. Es glich einem Drachen mit gestutzten Flügeln. Erst nach einem Augenblick merkte er, dass das Tier nur ausgestopft war. Daneben baumelte ein langes spiralförmiges Horn, das sicher einst einem Einhorn gehört hatte. Auch der riesige Kieferknochen daneben stammte bestimmt von einem Fabelwesen. In der Ecke, an einem Ständer aufgehängt, baumelte ein Skelett, das ihn aus leeren Augenhöhlen fixierte. Jack war im Labor des Zauberers gelandet. Alles sah genauso aus, wie Kit es beschrieben hatte. Vor dem Fenster stehend, hatte der Junge der Hafenbande beobachtet, wie der Zauberer hier einen Stein zum Glühen brachte. Die Ratten waren allerdings nirgendwo zu sehen. Langsam stahl sich Jack an den Regalbrettern vorbei, die die Wände des Raums säumten.
Ordentlich in Schaukästen eingeräumt, gab es dort Vogeleier, Muscheln, Schnecken, Perlen, Korallen, riesige Zähne, getrocknete Pflanzen und Steine. Wie in einer Apotheke standen darüber unzählige Glasgefäße mit farbigen Pulvern, Kräutern, getrockneten Wurzeln und Fläschchen mit Flüssigkeiten. Auf einem Ständer, neben einer ausgestopften Eule, lag eine durchsichtige Kristallkugel. Jack hatte auf dem Jahrmarkt eine Zigeunerin gesehen, die in einer ähnlichen Glaskugel die Zukunft ihrer Kunden gelesen hatte.
An der Wand gegenüber, zwischen den beiden Fenstern, reihten sich weitere Glasgefäße, in denen tote Schlangen und Frösche schwammen. Aus einer Holzvitrine daneben starrte ihm Orlandos Ebenbild entgegen. Das Grausige war, dass es sich nur um einen Affenkopf handelte. Dort, wo Molls Affe einen Körper mit Armen, Beinen und einen Schwanz hatte, hatte der ausgestopfte Affe einen Fischlaib. Ob hier ein Zauberspruch schiefgegangen war oder ob der Zauberer absichtlich eine so scheußliche Kreatur geschaffen hatte?