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Schaudernd trat Jack einen Schritt zurück, als es hinter ihm laut klapperte. Er war gegen den Tisch in der Mitte des Raums gestoßen und hatte dabei eines der bauchigen Glasgefäße umgestoßen. Es begann langsam auf die Kante zuzurollen. Im letzten Augenblick, bevor es auf dem Boden in Tausende von Scherben zerbersten konnte, fing Jack es auf. Puh, das hätte leicht ins Auge gehen können. Er lauschte. Auf dem Korridor hatten sich die Schritte entfernt. Doch plötzlich hielten sie an. Und näherten sich dann langsam wieder, um direkt vor der Tür zum Labor zum Stehen zu kommen.

Im nächsten Augenblick schwang die Tür auf. Sie quietschte leicht in den Angeln. Der Luftzug ließ den Drachen an der Decke sacht hin und her schwingen. Jack duckte sich gerade noch rechtzeitig unter den Tisch. Im Türrahmen stand ein Mann, der sich im Raum umsah.

»Jetzt sehe ich schon Gespenster«, murmelte er kopfschüttelnd. »Muss wohl der Wind gewesen sein.« Dann schloss er die Tür wieder hinter sich.

Jack atmete erleichtert auf. Das war gerade noch mal gut gegangen. War es möglich, dass der Mann tatsächlich ein Zauberer war? Irgendwie hatte er sich immer einen alten Mann mit weißen Haaren vorgestellt, keinen jungen mit ordentlich gestutztem Bart. Er musste sich sputen und schnell weiter nach den verschwunden Kindern suchen. Hier im Labor waren sie jedenfalls nicht. Jack wartete, bis die Schritte verklangen, dann trat er wieder auf den Gang hinaus. Er musste auf der Hut sein, doch er würde so lange weiter nach seinem Bruder suchen, bis er ihn gefunden hatte oder sich zumindest sicher war, dass er nicht in diesem Haus war. Doch sosehr sich Jack auch bemühte, er konnte die Kinder nicht aufstöbern. Und als er sich endlich entschloss, das Gebäude unverrichteter Dinge zu verlassen, bemerkte er obendrein, dass er sich in dem Ganggewirr hoffnungslos verlaufen hatte. Er blieb kurz stehen, um sich zu orientieren, als er ein leises Rufen, gefolgt von Klopfen, vernahm. Ob das doch die Kinder waren? Hastig eilte er in die Richtung, aus der die Stimme kam, bis er zu einer Tür gelangte, gegen die jemand wütend mit den Fäusten schlug.

»Lasst mich sofort raus hier!« Es war nicht die Stimme seines Bruders, sondern die des Jungen vom Jahrmarkt. Der Schlüssel steckte noch im Schloss und Jack brauchte ihn nur umzudrehen. Wachsam blickte er sich nach beiden Seiten um. Die Luft war rein.

Kaum hatte er die Tür geöffnet, stürzte der Junge wütend wie ein wildes Tier auf ihn zu, hielt jedoch im letzten Augenblick inne.

»Du?« Er schaute Jack an, als sei er ein Gespenst. »Was machst du denn im Haus von Sir Christopher?«

»Ich suche nach meinem Bruder«, erklärte Jack kurz. »Weißt du, wo der Mann die anderen geklauten Kinder eingelocht hat?«

»Andere Kinder? Keine Ahnung.« Der Junge spähte den Gang entlang. »Los komm! Wir müssen so schnell wie möglich raus hier, bevor uns dieser Schuft entdeckt.«

»Der Zauberer?«

»Zauberer? Ich kenne keinen Zauberer. Nein, Sir Christophers Assistent, Master Milton. Dieser Fiesling glaubt fest, dass ich den Salamander irgendwo versteckt hab. Den Salamander, den du mir gestohlen hast.« Er warf Jack einen vorwurfsvollen Blick zu. »Jetzt will der Mann mich meinem Onkel ausliefern.« Der Junge eilte bereits den Gang entlang, doch an der nächsten Ecke blieb er nochmals stehen und blickte zurück zu Jack. »Kommst du nicht mit?«

Jack zögerte einen Augenblick. Aber da es ohnehin zwecklos war, hier weiter nach Ned zu suchen, folgte er dem Jungen, der zielsicher durch die Gänge schritt. Nur einmal hielt er an, weil er nicht mehr weiterwusste.

»Hier lang«, meinte er kurz darauf, und wenig später waren sie in einer großen Halle angekommen, von der breite Treppen ins obere Stockwerk führten. Der Junge sah sich kurz um, dann rannte er auf die große Eichentür zu und schob den Riegel beiseite.

Bevor Jack ihm auf die Straße hinaus folgte, blickte er noch einmal zurück. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass ihn jemand beobachtete, aber er konnte niemanden sehen. Das Gemälde an der Wand war ihm dennoch unheimlich. Der Blick des schwarz gekleideten Mannes mit der Halskrause, der dort abgebildet war, durchbohrte ihn regelrecht mit seinen Augen. Schaudernd schlüpfte er durch die Tür, dem Jungen hinterher. Draußen angekommen, atmete er tief durch. Er war enttäuscht, dass er seinen Bruder nicht gefunden hatte, doch gleichzeitig erleichtert, dem schauerlichen Haus entronnen zu sein. Für heute konnte er nichts mehr tun und wollte nur noch mit Tommy nach Hause gehen. Er sehnte sich plötzlich sehr nach seinen Freunden und der Geborgenheit von Molls Dachboden. Doch wo war Tommy? Auf der anderen Straßenseite war die Bäckersfrau gerade dabei, den Verkaufstisch aufzuräumen. Tommy war nirgends zu sehen.

Entkommen

Dienstag, 10. September 1619

Alyss wollte so schnell wie möglich weg von hier und verstand nicht, wieso Jack zuerst auf die andere Straßenseite rannte und neben der Bäckerei stehen blieb. Wie konnte er jetzt an Essen denken, wo Master Milton gewiss innerhalb kürzester Zeit bemerken würde, dass sie abgehauen war? Sicher würde er jeden Moment aus dem Haus treten, um ihr hinterherzujagen. Doch dann wurde ihr klar, dass auch dem rothaarigen Jungen nicht nach Süßem war.

»Tommy! Tommy! Wo bist du, Tommy!« Er blickte sich erst in einem Hofeingang um, danach auf der Straße. »Tommy! Verdammt noch mal. Das ist nicht witzig. Hör sofort auf, dich zu verstecken.« Zwar drehten sich mehrere Leute nach Jack um, doch Tommy blieb verschwunden.

»Was ist los?«, fragte Alyss, die inzwischen ebenfalls die Straße überquert hatte. »Wer ist Tommy?«

Doch Jack ignorierte sie. Stattdessen wandte er sich an die rotwangige Frau, die mit einem Lappen Gebäckkrümel vom leeren Verkaufstisch wischte.

»Wo ist der Junge, der hier auf mich gewartet hat?«, fragte er sie.

»Woher soll ich das wissen«, erwiderte die Bäckersfrau griesgrämig. »Hier gehen viele Jungs vorüber, wenn der Tag lang ist.« Offensichtlich hatte sie keine Zeit für Fragen und wollte den Laden schließen.

»Aber er stand gleich hier, neben Eurer Bäckerei. Etwa so groß.« Jack hielt sich die Hand bis zur Brust. »Dürr wie ’n Stecken und käsebleich. Ihr müsst Euch doch an ihn erinnern. Er hat sich erst vorhin ’n Stück Kuchen bei Euch gekauft. Er wollte auf mich warten.« Jack klang so niedergeschlagen, dass selbst die ungeduldige Bäckersfrau mit ihm Mitleid bekam.

»Ach, du meinst wohl den Kleinen, der hier stand und an seinen Nägeln kaute?«, erinnerte sie sich. »Um den brauchst du dir keine Sorgen machen. Der wurde bereits vor ’ner Weile abgeholt.«

»Abgeholt?«

»Ja, ’n Mann ist mit ihm losgezogen.«

»Was für ein Mann?«

»Junge, du stellst Fragen. Woher soll ich wissen, wer das war. Auf jeden Fall ging der Kleine anstandslos mit ihm mit.«

»Wohin gingen sie?«

»Keine Ahnung.« Sie prüfte nochmals, ob der Verkaufstisch auch wirklich sauber war, dann klappte sie ihn hoch. »Wir sind heute Nachmittag geschlossen«, verkündete sie. Dann verschwand sie durch die Ladentür und verriegelte diese hinter sich.

Jack trat wütend gegen die Hauswand.

»Verfluchter Mist! Nicht schon wieder!«

»Vielleicht hatte er nur keine Lust mehr, auf dich zu warten«, versuchte Alyss ihn zu beruhigen.

»Ach ja«, fuhr Jack sie an, »und haut einfach mit ’nem wildfremden Mann ab. Höchst unwahrscheinlich. Tommy ist ’n Waise. Er kennt hier niemanden. Außerdem hab ich ihm eingeschärft, dass er auf mich warten soll.«

Alyss überlegte. Sicher gab es eine Erklärung, warum der Junge nicht mehr hier neben der Bäckerei stand.

»Ich hab’s«, meinte sie. Ihr war die Frau aus dem Pfandhaus eingefallen, bei der Jack und seine Freunde lebten. »Vielleicht war es gar kein Mann, mit dem er mit ist, sondern eine Frau.«