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»Wieso soll’s plötzlich ’ne Frau sein, wenn die Bäckersfrau von ’nem Mann sprach?«

»Na, die Frau mit dem Affen, bei der ihr wohnt. Mit ihren Hosen hält die doch jeder für einen Mann.«

»Moll? Wie kommst du denn auf die Schnapsidee.« Ein Windstoß wehte Jack die langen roten Haare ins Gesicht. Doch irgendwie schien ihn der Gedanke trotzdem zu beruhigen, denn er wurde freundlicher. Er klemmte sich die Haare hinter die Ohren. »Ich hoffe nur, dass ihn die Kinderfänger nicht erwischt haben.«

Alyss hatte zwar keine Ahnung, was er damit meinte, doch unwillkürlich fielen ihr Onkel Humphrey und Master Milton ein. Sie blickte auf die andere Straßenseite, wo die dunklen Fenster des grauen Steinhauses sie wie Augen beobachteten.

»Wir sollten schnellstens hier verschwinden«, meinte sie, »bevor Master Milton aus dem Haus kommt und uns hier stehen sieht.« Ohne auf Jack zu warten, rannte sie los. Doch er hatte sie schnell eingeholt.

»Wer hat dich ins Haus an der Themse geschickt?«

»Geschickt? Mich?« Alyss verstand nicht. »Mich hat niemand geschickt. Wieso?«

»Aber wieso bist du dann freiwillig dort aufgetaucht?«

»Ich wollte einen Freund meines Vaters wegen etwas um Hilfe bitten.«

»Im Ernst?« Jack blickte sie ungläubig an. »Der Zauberer ist ’n Freund von deinem Vater?«

»Zauberer? Wieso sprichst du nur immer von einem Zauberer? Wie kommst du nur auf die Idee. Ist doch lächerlich. Soviel ich weiß, ist er Wissenschaftler.«

»Aber in dem Haus gehen wirklich seltsame Dinge vor sich«, beharrte Jack. »Glaub’s mir. Er klaut Kinder und benutzt sie für seine Experimente.«

»Unsinn! Du irrst dich bestimmt.« Alyss betrachtete den rothaarigen Jungen, der neben ihr die Straße entlanglief. Auch wenn er sie bestohlen und ihr dadurch nichts als Scherereien bereitet hatte, stand sie jetzt in seiner Schuld. Immerhin war der Taschendieb gerade zum richtigen Zeitpunkt aufgetaucht, um sie aus ihrem Gefängnis zu befreien. Sie hätte es keinen Augenblick länger mit den stinkenden Ratten ausgehalten. Zudem hätte Master Milton sie sicher bei der nächsten Gelegenheit ihrem Onkel ausgeliefert. Dank Jack war sie noch einmal glimpflich davongekommen.

»Ich dachte, das Haus an der Themse war ’ne heiße Spur«, meinte er jetzt. Die Enttäuschung war ihm anzuhören. Er machte einen Bogen um einen Mann, der einen Schubkarren voller Kohlköpfe die Straße entlangschob. »Ich hab keine Ahnung, was ich als Nächstes tun soll. Diese verfluchten Kinderfänger soll der Henker holen!«

»Kinderfänger? Von was sprichst du eigentlich?«

»Wenn ich das nur wüsste. Zwar gibt jeder seinen Senf dazu und stellt Theorien auf, doch es ist alles nur leeres Geschwätz. In Wahrheit hat niemand auch nur ’nen blassen Dunst, wer dahintersteckt. Und in der Zwischenzeit verschwinden immer mehr Kinder auf Nimmerwidersehen.«

Während die beiden weiter nebeneinander Richtung Brücke gingen, begann der rothaarige Junge, Alyss von den vermissten Kindern zu berichten. Da war sein Bruder Ned, die Tochter einer verrückten Frau aus Bedlam, ein Junge aus einer anderen Bande, ein Mädchen namens Rose, deren Vater Handschuhmacher war, und jetzt vielleicht auch der kleine Tommy. Dann erzählte er von seiner Mutter, der er am Sterbebett versprochen hatte, sich immer um den jüngeren Bruder zu kümmern. Er beschrieb, wie er mit Ned hungrig und bettelnd durch die Straßen der Stadt gezogen war und schließlich in Molls Bande landete, wo sie als Taschendiebe ausgebildet wurden. Als er seine Schilderung beendet hatte, waren sie am Ende der Straße angekommen, wo sie über die Brücke auf die andere Seite mussten.

»Kapierst du«, meine er schließlich, seine Hände zu Fäusten geballt, »ich muss der Sache auf den Grund gehen.« Sie hatten angehalten, um eine Frau, die einen Korb auf dem Kopf balancierte, vorübergehen zu lassen, danach wurden sie von einigen Maultieren überholt, die mit Säcken beladen die Straße zum Hafen entlangtrotteten. Ihr Treiber hielt eine Peitsche in der Hand und folgte ihnen.

Natürlich verstand Alyss, was der Junge meinte. Wenn sie einen Bruder hätte, würde sie genauso handeln.

»Du findest ihn sicher wieder«, tröstete sie ihn.

Auf der London Bridge war so viel Betrieb, dass sie nur noch im Gänsemarsch gehen konnten. Schweigend drängten sie sich durch den Trubel. Alyss staunte jedes Mal wieder, dass die Brücke auf beiden Seiten von Wohnhäusern und Läden gesäumt war. Die Bauten hingen gefährlich über den Rand, und die obersten Stockwerke berührten sich, sodass man das Gefühl hatte, durch einen Tunnel zu gehen. An manchen Stellen war sie jedoch unbebaut und man konnte auf den Fluss blicken. In östlicher Richtung waren da die hohen Masten der Segelschiffe zu erkennen, mit Matrosen winzig wie Ameisen. Dort lag der Hafen mit den Werften und Docks, an denen die großen Handelsschiffe ankerten. Auch die Aurora, das Schiff ihres Vaters, war von dort in die Neue Welt gesegelt.

»Du meine Güte! Guck dir die Strömung an!« Alyss war neben dem Brückengeländer stehen geblieben und blickte schaudernd auf das sprudelnde Wasser hinab. Eine Holzplanke hüpfte auf und ab und wurde schließlich von den Wellen verschluckt. Unwillkürlich musste sie dabei an das Schiff ihres Vaters denken.

Jack drängte sie weiterzugehen. Sein sommersprossiges Gesicht, ohnehin blass, war auf einmal käsebleich.

»Ist dir nicht gut?«

»Mein Vater ist dort unten ertrunken.«

»Unter der Brücke?«

Jack nickte. »Er war ’n Fährmann. Ist ’ne riskante Sache, mit ’nem Boot unter der Brücke durchzufahren. Sein Kahn ist gekentert.« Er trat auf die Seite, um einen Reiter vorbeizulassen, der aus der anderen Richtung kam, und schritt dann eilig weiter. Alyss wollte ihn einholen, doch zwei junge Frauen kamen ihr in die Quere.

»Mein Vater ist wahrscheinlich auch ertrunken«, sagte sie leise, als endlich wieder genug Platz war, um neben dem Jungen zu laufen.

»Was? Unter der Brücke?« Jack starrte sie an.

»Nein, im Ozean.«

Alyss hatte keine Ahnung, was sie überkam, doch plötzlich verspürte sie das Bedürfnis, sich dem Jungen anzuvertrauen. Immerhin hatte auch er ihr seine Probleme erzählt. Sie berichtete ihm von ihrem Vater, vom Salamander und von Onkel Humphrey mit seinen ekelhaften Söhnen, der sie aus dem Weg schaffen wollte. Sie gestand Jack sogar, dass sie nicht Al, sondern Alyss hieß und kein Junge, sondern ein Mädchen war.

»Ein Mädchen?« Er musterte sie von der Seite, während sich ein breites Grinsen über sein Gesicht zog. »Du und Moll, ihr gäbt ’n tolles Team ab.« Dann wurde er wieder ernst. »Allerdings würde es mich schon interessieren, wieso die alle so scharf auf deinen Salamander sind.« Aber diese Frage konnte auch Alyss nicht beantworten.

Mittlerweile hatten sie die andere Flussseite erreicht. Obwohl Alyss das Verrätertor hasste, konnte sie nicht umhin, an der Fassade hochzublicken. Die verzerrten Fratzen der geköpften Verräter gafften mit ihren leeren Augenhöhlen auf das Treiben auf der Straße hinab. Die Sonne tauchte kurz zwischen den Wolken auf und bestrahlte die Gesichter. In der anderen Richtung, ein Stück die breite Straße entlang, konnte man die Zelt- und Budenstadt des Jahrmarkts sehen.

»Wohin gehst du jetzt?«, fragte Jack.

»Zurück zu Sassa und den anderen.« Sie wusste nicht, wohin sie sonst hätte gehen sollte. Hoffentlich würden ihre neuen Freunde sie noch eine weitere Nacht beherbergen. Das Zelt der Schausteller war in den vergangenen Tagen fast zu einem Zuhause für sie geworden. Sie würde dort warten, bis Sir Christopher von seiner Reise zurückkam.

»Meinst du, das ist ’ne gute Idee, zurück zum Wilden zu gehen?«, warf Jack ein. »Ich kenne jemanden, der ist überzeugt, dass die Jahrmarktsleute hinter den verschwundenen Kindern stecken.« Er überlegte. »Du könntest mit mir zu Moll kommen. Auf unserem Dachboden ist immer Platz.«

Alyss lächelte. Im Grunde sollte ihr dieser Junge unsympathisch sein. Immerhin hatte er ihren Salamander gestohlen. Aber eigentlich fand sie ihn richtig nett.