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»Mach dir mal keine Sorgen«, meinte sie. »Die drei aus der Raritätenschau sind meine Freunde. Die tun mir nichts.«

»Trotzdem«, erwiderte Jack, »falls du deine Meinung änderst, komm zu uns.« Er strich sich seine Haare, die ihm wieder in die Stirn gefallen waren, hinter die Ohren. »Moll ist gar nicht so schlimm.«

»Danke, mach ich«, erwiderte Alyss, obwohl ihr die Frau in Männerhosen unheimlich war. »Ich muss sowieso morgen dort vorbei. Sie hat ja versprochen, meinen Salamander aufzustöbern.«

»Na, dann bis morgen«, meinte Jack. »Und vergiss nicht, London ist gefährlich. Hüte dich vor Kinderfängern.« Dann grinste er. »Und Taschendieben.« Anschließend bog er in eine schmale Gasse links von der Brücke ab.

Alyss drängte sich weiter durch das Gewühl der Budenstadt. Nach dem ereignisreichen Morgen war sie erschöpft und freute sich darauf, sich im Zelt der Schausteller auszuruhen. Der köstliche Geruch nach Karamell stieg ihr in die Nase. Schade, dass sie immer noch kein Geld hatte, um sich einen der leckeren Zuckeräpfel zu kaufen. Gleich hinter dem Zuckerapfelstand bog sie rechts ab, um statt im Gedränge vor den Buden dahinter weiterzulaufen. Wie immer war dort weniger los, und sie kam schneller vorwärts, auch wenn sie vorsichtig über die Abspannleinen der Zelte steigen musste. Obwohl der verstauchte Knöchel nicht mehr schmerzte, hatte sie keine Lust, noch einmal zu stolpern.

Alyss’ Gedanken rasten. Solange Sir Christopher nicht von seiner Reise zurück war, würde sie sich nicht mehr in das Haus an der Themse wagen. Seinem unberechenbaren Assistenten wollte sie auf keinen Fall wieder gegenüberstehen. Und was hatte es mit den verschwundenen Kindern auf sich, von denen Jack gesprochen hatte? Sir Christopher steckte da bestimmt nicht dahinter. Er war ein Freund ihres Vaters. Ihm konnte sie trauen.

Master Milton dagegen ... Wieso waren er und alle anderen hinter dem Salamander her? Welches Geheimnis verbarg das Amulett? Es konnte sich nicht nur um seinen Wert in Gold handeln, da steckte mehr dahinter. Vielleicht waren die Buchstaben auf dem Bauch des Tierchens der Schlüssel des Rätsels. Und wieso hing in Sir Christophers Eingangshalle ein Bild, auf dem ein Salamander aus den Flammen stieg? Sicher bestand zwischen den beiden eine Verbindung.

»Pass auf, wo du hingehst!«, wurden ihre Gedanken abrupt unterbrochen.

Um ein Haar wäre sie mit einem Mann zusammengestoßen, der wie aus dem Nichts aus einer Gasse zwischen zwei Buden aufgetaucht war. Nur knapp gelang es Alyss, einen Schreckensschrei zu unterdrücken. Onkel Humphrey! Wie gut, dass sie nach wie vor Jungenhosen trug, denn der Onkel hatte sie nicht erkannt und beachtete den Jungen am Straßenrand nicht weiter. Die Mütze tief ins Gesicht gezogen, drückte Alyss sich dicht an eine Budenwand. Von dort konnte sie sehen, wie ihr Onkel zielstrebig den Gehweg hinter den Buden entlangschritt und nach einem kurzen Stück vor einer Toreinfahrt, die groß genug für Kutschen war, anhielt. Alyss hatte den Gasthof schon am Vortag bemerkt, sich jedoch das Schild über dem Eingang nicht genauer angesehen. Auf gelbem Grund war dort ein weißer Hirsch aufgemalt. Du lieber Himmel! Das war ja eine schöne Bescherung! In London gab es Tausende von Gasthöfen, doch Onkel Humphrey hatte sich direkt vor ihrer Nase einquartiert. Tatsächlich schritt er gleich darauf durchs Tor in den Hof. Ojemine! Der Hintereingang zur Raritätenschau lag nur ein kurzes Stück entfernt. Alyss schlüpfte so schnell wie möglich durch die Klappe und hockte sich auf ihren Stammplatz hinter der Truhe. Ihr Herz klopfte immer noch bis zum Hals. Das war gerade noch mal gut gegangen. Doch was, wenn sie ihrem Onkel wieder über den Weg lief und er sie das nächste Mal trotz Jungenhosen erkannte? Sie musste auf der Hut sein.

Der Goldschatz der Girona

Dienstag, 10. September 1619

Auf Molls Dachboden herrschte gedrückte Stimmung. Die Bandenmitglieder hockten stumm im Kreis um James herum. Der Strohmann hing bewegungslos am Balken, kein Glöckchen bimmelte. Nur von draußen konnte man die Glocken der nahen St.-Olaves-Kirche hören. Jack zählte die Schläge. Es war neun Uhr und Tommy war immer noch nicht zurückgekehrt. Als er früher am Abend Moll nach dem Jungen gefragt hatte, hatte sie nur mit den Achseln gezuckt. Dass schon wieder einer ihrer Zöglinge vermisst wurde, interessierte sie heute wenig. Sie hatte Wichtigeres vor, denn sie wollte sich mit Kapitän Bates in der Schenke an der Ecke treffen. Während des Abendessens musste Jack dann den anderen sein Abenteuer im Haus des Zauberers immer wieder von Neuem schildern. Alle lauschten ehrfurchtsvoll. Selbst Guy blieb die Spucke weg.

»Teufel noch mal! Das ist ja ’n Ding!«, murmelte er immer wieder voller Bewunderung.

Doch Jack konnte seinen Ruhm nicht auskosten. Er hatte seinen Bruder nicht gefunden und noch dazu Tommy verloren. Nach dem Essen hatte Guy dann einige neue Kartentricks vorgeführt, doch selbst er war nicht bei der Sache und steckte den Stapel bald wieder weg.

»Ich versteh einfach nicht, wieso er so einfach mit ’nem Fremden abgezogen ist«, überlegte er laut.

»Vielleicht gibt’s ja doch noch irgend ’nen Verwandten«, versuchte Maggie Tommys Verschwinden zu erklären. Sie kniete neben Eliza auf dem Boden und versuchte mit einem feinzinkigen Kamm die verfilzten Haare der Jüngeren zu entwirren.

»Dann hat uns der Kleine aber mächtig verkohlt«, erwiderte Guy. »Höchstwahrscheinlich ist er nicht mal ’n Waise, sondern nur von zu Hause ausgebüxt. War sicher sein Alter, der ihn sich geholt hat.«

Jack schwieg. Auch wenn er Maggies und Guys Theorie gerne geglaubt hätte, sagte ihm sein Gefühl trotzdem, dass es nicht so war.

»Vielleicht war’s gar kein Mann«, überlegte Eliza. Sie verzog ihr Gesicht, denn sie konnte es nicht ausstehen, wenn Maggie ihre Haare nach Läusen durchsuchte.

»Moll war’s nicht«, erwiderte Jack. »Ich hab sie schon gefragt.«

»Nein. Nicht Moll«, erwiderte die Kleine bestimmt, »sondern ’ne Fee.«

»’ne Fee?« Guy grinste. »Monster, Geister, Zauberer, Feen ... Wie wär’s mit ’nem Zwerg. Das ist ja bald wie im Theater. Da geht’s auch immer um Geister und Feen und ähnlichen Hokuspokus. So ’n Quatsch.«

Doch Eliza ignorierte ihn. »Aber die Eierfrau hat’s mir doch gesagt. Es gibt da so ganz gemeine Feen, die Kinder entführen. Sie verschleppen sie in ihr Land. Die Frau hat gesagt, dass sie sich Ned und Rose geholt haben.« Sie blickte Jack ernst mit ihren großen braunen Augen an. »Und bestimmt haben die sich auch den Freund von Kit und Tommy geschnappt. Au! Das tut weh!« Sie begann zu zappeln und Maggies Hand wegzuschieben.

»Wenn du willst, dass dein Kopf aufhört zu jucken, musst du dich entlausen lassen«, belehrte Maggie das Mädchen.

Eliza, die sich widerstrebend dem Läusekamm ergab, fuhr fort. »Stellt euch mal vor, die Feen klauen nicht nur Kinder. Ich hab das gar nicht gewusst. Aber die Eierfrau kennt sich in solchen Sachen echt aus. Sie hat nämlich erst kürzlich ’ne Nähnadel verloren. Da hat sie den Feen ’n Teller voller Milch hingestellt und am nächsten Tag doch tatsächlich die Nadel unterm Tisch wiedergefunden. Ist das nicht irre. Der Trick mit der Milch geht aber nur mit Sachen. Menschen rücken sie nicht so schnell wieder raus.«

»Ist doch alles dummes Zeug«, unterbrach sie Guy. »Die Alte hat ihre Nadel nur verlegt und dann zufällig wiedergefunden.«

»Meine Großmutter hat auch an Feen geglaubt«, mischte sich Walter ein. »Sie hat ihnen Milch vor die Tür gestellt, jede Nacht ’ne Schale voll, damit sie uns in Ruhe ließen. Sie hat mir auch ’n guten Rat gegeben. Wenn man seine Schuhe so aufstellt, dass die Schuhspitzen nachts vom Bett wegzeigen, da rauben sie dir nicht ’n Schlaf.«

Auch Tim glaubte an Feen. Er griff sich an den Hals und zog ein Band hervor, an dem ein billiger Ring aus Eisen hing. »Mich kriegen sie nicht«, grinste er. »Sie mögen kein Eisen und dieser Ring beschützt mich.«