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»Wenn es diese Flatterdinger tatsächlich gäbe, würden die dich nicht einmal geschenkt wollen«, meinte Guy. »Ist alles Altweibergeschwätz. Ich jedenfalls lass mich nicht so leicht verschaukeln.« Er holte sich eine der Strohmatratzen, die tagsüber unter dem Dachgesims aufgestapelt waren, und legte sie auf den Boden. »Und außerdem war’s ’n Mann, mit dem Tommy abgezogen ist, kein grüner Zwerg mit Schmetterlingsflügeln. Ich jedenfalls hab genug von Geistern, Zauberern und Feen. Ich werde jetzt schlafen. Gute Nacht.« Und er streckte sich auf der Matratze aus.

Auch Jack glaubte nicht an Feen. Immerhin hatte er deutlich gesehen, wie die kleine Frau im Jahrmarktszelt ihre Flügel abgeschnallt hatte. Er gähnte. Es war ein langer Tag gewesen und er war müde. Den anderen ging es ebenso.

»Genug für heute«, meinte auch Maggie und steckte den Kamm in ihre Schürzentasche. Sie gab der Kleinen einen Klaps. »Ins Bett mit dir.«

Eliza zog folgsam ihre Holzpantinen aus und legte sich auf ihre Matratze, doch schon einen Augenblick später setzte sie sich wieder auf. Mit ernstem Gesicht schob sie ihre Schuhe so zurecht, dass die Spitzen vom Bett wegzeigten. Erst als sie zufrieden damit war, zog sie die Decke bis zum Hals und schloss die Augen. Maggie blies die Kerzen aus, und bald darauf konnte man nur noch leises Atmen hören. Alle waren eingeschlafen, bis auf Jack.

Wie so oft lag er schlaflos auf dem Rücken und dachte an seinen Bruder. Die Spur im Haus des Zauberers war im Sand verlaufen. Aber wenn Ned nicht dorthin gegangen war, wo war er dann? Vielleicht sollte er doch die Gefängnisse der Stadt abklappern. Maggie hatte ihm gesagt, dass die Wärter sich bestechen ließen. Immerhin war es durchaus denkbar, dass Ned dort gelandet war.

Im Quadrat der offenen Dachluke konnte man die funkelnden Sterne sehen. Der Wind, der den ganzen Tag durch die Straßen Londons gefegt hatte, hatte die Wolken weggeblasen. Kein Lüftchen regte sich mehr. Jack erinnerte sich an den Abend, als sein kleiner Bruder das letzte Mal auf der Matratze neben ihm gelegen hatte. Damals war es in der Dachstube unerträglich schwül gewesen. Doch Ned schien die Hitze nicht zu stören. Er hatte auf dem Bauch gelegen und mit einem verkohlten Hölzchen Tiere auf den Holzboden gemalt. Der Bruder fehlte ihm so sehr! Dann fiel Jack das dunkelhaarige Mädchen in den Jungenklamotten ein. Fast tat es ihm ein bisschen leid, dass er Alyss bestohlen hatte. Andererseits hätte er sie nie kennengelernt, und das wäre schade gewesen. Er bewunderte ihren Mut. Sie war allein losgezogen, um diese gierigen Verwandten aus ihrem Elternhaus zu vertreiben.

Unten auf der Straße erklang der Ruf des Nachtwächters, der durch die Gassen des Viertels zog, um für Ruhe und Ordnung zu sorgen, Fensterläden klapperten. Wenig später schlug die Haustür zu und man hörte im Treppenhaus Stimmen. Moll und Kapitän Bates waren aus der Schenke zurückgekehrt. Vermutlich wollten sie, nachdem das Wirthaus seine letzten Gäste nach der Sperrstunde auf die Straße gesetzt hatte, ihr Trinkgelage zu Hause fortsetzen.

Die anderen Kinder der Bande schlummerten unterdessen friedlich. Nur die kleine Eliza seufzte hin und wieder leise im Schlaf. Jack drehte sich unruhig auf die andere Seite. Jetzt drückte ihn zudem noch die Blase. Er hatte absolut keine Lust, den langen Weg zum Abort zu gehen, stand aber schließlich doch auf und tapste im Dunkeln die Stiegen hinab. Unten im Flur hatte Moll eine Lampe angezündet, die gespenstische Schatten an die Wände warf und sich in den Spiegeln mehrfach reflektierte. Gewöhnlich nahm Jack die Spiegel nicht einmal wahr, doch heute Nacht schrak er immer wieder vor seinem eigenen Spiegelbild zurück. Der Tag hatte ihm zugesetzt.

»Die Gören haben mal wieder alles weggeputzt.« Der Weg zum Hof, wo das Klosett lag, führte durch den Laden an der Küche vorbei. Die Tür war nur angelehnt und man konnte Molls Stimme deutlich hören. »Brot und Käse und ’n verschrumpelter Apfel. Das ist alles.« Moll und der Kapitän waren dabei, sich über die Reste des Abendessens herzumachen.

Eigentlich wollte Jack ja so schnell wie möglich auf den Hof hinaus, doch die Worte Schatz und Salamander ließen ihn aufhorchen. Das durfte er sich nicht entgehen lassen.

»Und jetzt leg endlich los! Erzähl schon, was du von dem Schatz der Girona und diesem legendären Salamander gehört hast«, forderte Moll den Kapitän auf.

Durch den Spalt konnte er sehen, wie sich Kapitän Bates an den Tisch setzte. Der goldene Ohrring im rechten Ohrläppchen funkelte im Kerzenlicht. Über dem linken Auge trug er eine Klappe. Es hieß, er habe sein Augenlicht im Kampf gegen Piraten verloren. Jack war sich jedoch nie sicher, ob der Mann nicht selbst Pirat gewesen war. Neuerdings verfrachtete er hauptsächlich Tabak aus den Kolonien. Die Tabakhändler Londons mussten mit Nachschub versorgt werden, und seit Pfeiferauchen in England modisch geworden war, segelte er ständig zwischen der Alten und Neuen Welt hin und her.

Doch der Kapitän ließ sich Zeit. Er hatte seinen Dolch aus der Scheide gezogen und säbelte damit ein Stück Käse ab, spießte es mit der Messerspitze auf und schob es sich in den Mund.

»Der Schatz der Girona«, begann der Mann endlich, »stammt von einem spanischen Schiff. Als unsere Flotte vor mehr als dreißig Jahren in ’ner Seeschlacht die spanische Armada besiegte, ist eines der feindlichen Schiffe entkommen, die Girona. Allerdings geriet das Schiff schon bald in ’nen mächtigen Sturm und in Seenot. Dann irgendwo vor der Küste Irlands ist es auf den Klippen zerschellt. Man sagt, es war mit unglaublichen Schätzen vollgeladen. Gold aus Mexiko und Südamerika, das für den spanischen König bestimmt war.« Er steckte sich ein weiteres Stück Käse in den Mund.

»Stell dir nur vor! All das Gold für immer futsch! Nur die Leiche des Kapitäns, Don Alonso Spinola, wurde an Land geschwemmt. Mit seiner Faust umklammerte er ’nen kleinen goldenen Salamander.« Kapitän Bates hielt kurz inne. »Das Gerücht geht, dass auch wenn der Goldschatz der Girona für immer auf ’m Meeresgrund liegt, dieser goldene Salamander wie ’ne tiefe Schatztruhe ist. Man sagt, er würde seinen Besitzer ungeheuerlich reich machen. Tolle Geschichte, was?«

Moll schwieg, während sie Orlando, der sich wie ein Pelzkragen schlafend um ihren Hals kuschelte, nachdenklich streichelte.

»Die Geschichte ist noch nicht zu Ende«, fuhr der Kapitän geheimnisvoll fort. Immer noch kauend, öffnete er seinen Tabakbeutel und begann fachmännisch seine Pfeife zu stopfen. Er reichte Moll das Säckchen, doch die Frau lehnte mit einer Handbewegung ab.

Jack trat leise von einem Bein aufs andere. Wenn er nicht bald auf die Toilette ging, würde er sich in die Hose machen. Aber er wollte sich Kapitän Bates’ Geschichte auf keinen Fall entgehen lassen.

»Weiß nicht, ob’s nur Seemannsgarn ist, aber seit einigen Tagen geht so ’n Gerücht um«, fuhr der Kapitän fort, »dass der Salamander wieder aufgetaucht ist, und zwar hier in London.« Er hielt einen Holzspan in die Kerzenflamme und zündete damit seine Pfeife an. »Ich weiß aus ’ner zuverlässigen Quelle, dass ’ne Göre ihn mit sich herumträgt. Sie hat ihn geklaut und jetzt ist ’ne hohe Belohnung auf sie ausgesetzt.«

»’n Mädchen?«, fragte Moll. Sie hatte aufgehört, Orlando zu streicheln, und aufgeregt angefangen, ein Stück Käse mit den Fingern zu zerkrümeln. »Sieh mal einer an! Hab’s mir doch gleich gedacht, dass das kein Junge war.«

»Was?« Der Kapitän blickte sie verständnislos an.

»Ich glaube«, meinte Moll, »jetzt könnte ich doch ’ne Pfeife gebrauchen.« Einen Augenblick später blies auch sie Rauchringe in die Luft. »Die Göre war gestern hier im Pfandhaus«, erklärte sie.

»Die Göre war bei dir?« Nun war Kapitän Bates an der Reihe zu staunen. »Gibt’s hier was zu trinken?«, fragte er.