Moll hob den schlafenden Orlando sachte von ihrer Schulter und legte ihn auf ein Kissen. Dann stand sie auf und füllte zwei Tonkrüge mit Bier.
»’ne Göre in Jungenklamotten hat behauptet, einer meiner Jungs hätte den Salamander von ihr geklaut.« Moll zuckte mit den Achseln. »Das hat er natürlich auch. Sie war ’n aufdringliches Balg. Bestand drauf, morgen wiederzukommen.«
»Und wo ist das Tierchen?«
»Bedauerlicherweise hab ich’s längst weiterverkauft. Hatte ja keine Ahnung, dass es so wertvoll ist. Noch dazu ist der Käufer schon gestern auf ’nem Schiff nach Afrika gesegelt. So ’n Pech.« Sie klickte mit der Zunge. »Da haben wir ’ne riesige Chance verpasst.«
»Du heiliger Strohsack! Das kann nicht dein Ernst sein.«
Doch Moll nickte trübsinnig. »Ich hielt ’nen Goldschatz in meiner Hand, und jetzt ist er schon wieder futsch.«
Aber den Seefahrer bedrückte der verschwundene Salamander nicht allzu lange. Stattdessen schmiedete er bereits neue Pläne.
»Egal. Das mit dem Salamander ist vermutlich sowieso nur altes Seemannsgarn. Aber wenn die Kleine morgen wiederkommt, könntest du sie trotzdem schnappen. Es gibt da ’nen Mann, der die Göre und das Tierchen unbedingt wiederhaben will. Er hat ’ne hohe Belohnung für sie ausgesetzt und würde sicher jeden Preis zahlen, um sein Täubchen wiederzubekommen.« Er hob den Krug und trank einen tiefen Schluck. Dann wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund.
»Ohne den Salamander ist sie wertlos«, erinnerte ihn Moll.
»Ist sie nicht«, grinste Bates verschlagen und sah dadurch noch mehr wie ein Pirat aus. »Der Mann weiß ja nicht, dass sie den Salamander verloren hat, und von uns wird er das bestimmt nicht erfahren.«
Endlich begann auch Moll zu verstehen. »Prächtige Idee!« Dann hielt sie kurz inne. »Da ist nur ’n kleines Problem. Ich kann das Balg nicht hier im Haus verstecken.«
»Na, da gibt’s ’ne einfache Lösung.« Bates hatte auch dazu bereits einen Plan. »Sobald sie bei dir auftaucht, schick sie zu Nathaniel. Der bewahrt öfters Wertsachen für mich auf und kann sich bis zur Lösegeldübergabe um sie kümmern. Erzähl ihr einfach, dass du Nathaniel den Salamander verkauft hast und er ihn ihr zurückerstatten will. Da geht sie sicher anstandslos hin.«
»Und was, wenn der Menschenfresser wieder mit ihr zusammen auftaucht?«
»Ach was. Du bist ’ne kluge Frau. Dir fällt schon was ein, wie du ihn loswerden kannst. Sag auf alle Fälle Bescheid, wenn du die Göre zu Nathaniel geschickt hast. Dann können wir ihrem Onkel ’n Erpresserbrief zustellen. Und wenn er uns das Lösegeld bezahlt hat, machen wir halbe-halbe.«
»Donnerlittchen!« Moll grinste bis über beide Ohren. »Das ist ’n verdammt guter Plan. Lass uns drauf anstoßen.« Sie hob ihren Bierkrug.
Kurz darauf begann Kapitän Bates laut zu gähnen.
»Ich bin hundemüde.« Er klopfte seine Pfeife über der Herdstelle aus und steckte sie in den Lederbeutel, der an seinem Gürtel hing. »Es ist spät und ich geh besser zurück aufs Schiff in meine eigene Koje. Ich hab morgen ’nen frühen Termin. Aber wie wär’s, wenn du und ich morgen ...«
Jack konnte es nun wirklich nicht mehr länger aushalten. Bevor Bates seinen Satz beendet hatte und aus der Küche trat, schlüpfte er durch die Hintertür auf den Hof hinaus. Als er wenig später zurück durch den Flur zur Treppe schlich, war es in der Küche dunkel. Nur unter Molls Kammertür im ersten Stock drang ein schmaler Lichtstreifen hindurch. Sie hatte die Lampe mit nach oben genommen. Hinter der verschlossenen Tür hörte man sie beschwingt vor sich hin trällern. Orlando, der von seinem Nickerchen aufgewacht war, begleitete ihren Gesang schnatternd. Jack wollte gerade an der Tür vorbei die Stiegen zum Dachboden hoch, als Moll anfing zu sprechen.
»Hab mir’s doch gleich gedacht, dass das Ding hier kostbar ist«, kicherte sie zufrieden. »Schau dir das Tierchen an, Orlando. Siehst du, wie die Steine im Licht der Kerze funkeln. Das sind Rubine.« Das Äffchen begann aufgeregt wie ein Huhn zu gackern, als würde es genau verstehen, was sie ihm erklärte. »Wir werden reich werden. Gold und Edelsteine und ’nen Palast voller Spiegel. Was meinst du? Und die lästigen Bälger können schauen, wo der Pfeffer wächst. Wir jedenfalls werden sie nicht mehr brauchen.«
Jack bückte sich neugierig, um durchs Schlüsselloch zu blicken. Doch er konnte nur Molls Schatten sehen, der vom Kerzenlicht wie ein Scherenschnitt an die Wand geworfen wurde. Sie hielt etwas in ihrer Hand. Was, konnte er nicht erkennen, doch es war offensichtlich, dass es sich um den Salamander handelte.
»Meinst du, das Tierchen ist hohl und hat in seinem Bauch ’ne winzige Schatzkarte versteckt? Oder ...? Na ja, für heute soll’s gut sein. Wir werden das sicher bald herausfinden, und bis dahin ist er gut unter der Matratze aufgehoben.« Molls Silhouette streckte sich und man hörte sie laut gähnen. Dann wurde es dunkel im Zimmer. Sie hatte die Kerze ausgeblasen.
Jack konnte es nicht fassen. Da hatte Moll alle an der Nase herumgeführt. Ihn, Alyss, den Wilden und sogar ihren Freund, Kapitän Bates. Sie hatte den Salamander nie weiterverkauft, sondern von Anfang an für sich behalten. Er schlich die Treppe zum Dachboden hoch. Alyss schwebte in großer Gefahr. Sie durfte morgen um keinen Preis ins Pfandhaus kommen. Er musste sie warnen.
Zur silbernen Nixe
Mittwoch, 11. September 1619
Alyss wurde am nächsten Morgen im Zelt der Schausteller durch Geflüster geweckt. Doch als sie schläfrig ihre Augen öffnete, war es plötzlich mucksmäuschenstill. Die drei Schausteller hockten auf dem Boden zwischen den Kisten und Truhen und blickten sie erwartungsvoll an.
Alyss hatte sie bereits am Vorabend kurz zwischen den einzelnen Vorführungen gesehen, doch die Zeit war zu knapp gewesen, um ihnen ausführlich Bericht zu erstatten. Als sie dann nach der letzten Vorstellung endlich Feierabend gemacht hatten, hatte Alyss bereits tief und fest geschlafen. Jetzt wollten sie bestimmt erfahren, wie es ihr bei Sir Christopher ergangen war.
»Guten Morgen.« Alyss richtete sich auf. Sassa, Aurelia und Hector erwiderten ihren Gruß. Der Riese verbeugte sich dabei wie vor einer feinen Dame.
»Gu...guten Mo...morgen, Mylady.« Bevor sie am Vortag zu Sir Christopher losgezogen war, hatte sie den neuen Freunden endlich auch gestanden, dass sie ein Mädchen war. Aurelia hatte nur weise gelächelt, sie hatte längst geahnt, dass ihr Gast kein Junge war.
»Hungrig?«, fragte sie jetzt.
Alyss nickte. Und ob sie hungrig war. Sie bürstete Stroh aus Haaren und Kleidung und hockte sich im Schneidersitz zwischen Sassa und Hector. Der Indianer trug bereits seinen Lendenschurz und hatte eine Feder in sein Haar gesteckt. Nur sein Gesicht war noch ungeschminkt. Hector, der mit angezogenen Beinen auf ihrer anderen Seite hockte, tätschelte mit seiner riesigen Hand Alyss’ Kopf, während sich ein schiefes Lächeln über sein Gesicht zog.
»Erzähl schon endlich, was genau passiert ist«, drängte Aurelia. Sie brach ein Stück Brot ab und reichte es dem Mädchen.
Kauend schilderte Alyss den Freunden ihren abenteuerlichen Besuch im Haus von Sir Christopher. Sie berichtete, wie sie zunächst herzlich von der netten Haushälterin empfangen worden war und wie auch Master Milton freundlich mit ihr gesprochen hatte. Wie Onkel Humphrey unerwartet aufgetaucht war und sie vom Nebenzimmer aus seinen Lügen gelauscht hatte. Und wie sich der Assistent aus heiterem Himmel in einen Irren verwandelt hatte.
»Der hatte wirklich ’n Stich. Wollte unbedingt den Salamander und hat mich in ’ne Kammer voller Ratten gesperrt.« Es lief ihr immer noch eiskalt über den Rücken, wenn sie daran dachte.
»Ich kann Ratten auch nicht ausstehen.« Aurelia verzog angewidert ihr Gesicht. Sie hatte sich auf die Kiste neben die ausgestopfte Wildkatze gehockt und baumelte mit ihren Beinen. An den Füßen trug sie heute winzige silberne Schuhe.