Alle staunten, als sie von Jack, dem rothaarigen Taschendieb, berichtete, der plötzlich aufgetaucht war und sie befreit hatte, und davon, wie sie mit ihrem Retter aus dem Haus geflohen war.
»Der Taschendieb ist gar nicht so übel«, bekannte sie. »Ohne ihn würde ich vermutlich immer noch bei den Ratten hocken. Igitt! Und dieser verrückte Assistent würde mich meinem Onkel ausliefern.«
Alyss bemerkte, wie Sassa der falschen Fee einen vielsagenden Blick zuwarf. Heckten die beiden etwas aus? Sie biss hungrig ein Stück Brot ab und fuhr fort.
»Allerdings ist es wirklich zum Verrücktwerden.« Sie hatte es bis zum Schluss aufgehoben zu berichten, wer ihr auf dem Heimweg hinter den Buden begegnet war. »Onkel Humphrey hat sich doch tatsächlich ’n Zimmer im Weißen Hirschen genommen. Das ist ein Wirtshaus, nur ein paar Schritte von hier entfernt.«
»Wissen wir schon, dass er sich dort einquartiert hat.« Aurelia nickte ernst.
Erst dachte Alyss, sie hätte sich verhört, dann starrte sie von Aurelia zu Sassa und wieder zurück.
»Das wisst ihr? Aber ihr kennt Onkel Humphrey doch gar nicht?«
Diesmal war es Aurelia, die Sassa einen besorgten Blick zuwarf. Der Indianer nickte.
»Zeig’s ihr schon«, wies er sie an. »Irgendwann muss sie’s doch erfahren.«
Aurelia griff in den Ausschnitt ihres Kleides und zog ein zusammengefaltetes Blatt hervor. Sie glättete es sorgfältig, bevor sie es Alyss reichte. »Die wurden über Nacht in der ganzen Vorstadt verteilt und hängen jetzt überall an Hauswänden, Buden und Zelten.«
Es handelte sich um einen Steckbrief, wie diejenigen, die oft für gefahndete Verbrecher angeschlagen wurden. Alyss überflog den Text.
»Gütiger Himmel!«, rief sie erschrocken.
Auf dem Zettel stand in großen Lettern: 20 Pfund Belohnung. Darunter in kleinerer Schrift: Gesucht. Mädchen, 12 Jahre. Von zu Hause ausgerissen. Kleine Statur, Haare und Augen dunkelbraun. Möglicherweise in Verkleidung. Informationen zu ihrem Aufenthaltsort an Master Humphrey Ratcliff von Hatton Hall, derzeit im Gasthof zum Weißen Hirschen, Southwark.
»Und was soll ich jetzt tun?«
»Hier ge...gefährlich«, stotterte der Riese, bevor er nach einem Krug Milch griff, der auf dem Boden stand. Er trank einen Schluck, wischte den Milchbart auf seiner Oberlippe mit dem Hemdärmel ab und reichte Alyss den Krug, der in seinen riesigen Händen eher einem Fingerhut glich.
»Stimmt«, pflichtete ihm Sassa bei, während er auf den Steckbrief deutete. »Auf dem Jahrmarkt ist’s jetzt zu riskant. Zu viele von diesen Zetteln.«
»Aber wo soll sie denn sonst hin?« Aurelia war von der Kiste gehüpft und hatte angefangen, sich ihre Flügel umzuschnallen. »Nach Hause kann sie nicht. Zu Sir Christopher kann sie auch nicht, solange der verrückte Mann mit den Ratten dort auf sie wartet. Was bleibt ihr denn anderes übrig?«
Die kleine Frau hatte recht. Alyss hatte wirklich keine Ahnung, wohin sie gehen sollte. Hector hielt den Krug immer noch in ihre Richtung.
»Mi...Milch«, sagte er.
Sie griff danach und nahm einen kräftigen Schluck. Es war lange her, seit sie frische Milch getrunken hatte. Der Geschmack tröstete sie etwas. Er erinnerte sie an sorgenfreie Tage, bevor die Ratcliffs sich in Hatton Hall eingenistet hatten.
»Und wer ist das?«, ertönte eine verärgerte Stimme.
Die vier waren so damit beschäftigt gewesen, eine Lösung für Alyss’ Probleme zu finden, dass niemand das leise Klimpern des Perlschnurvorhangs zum Zuschauerraum bemerkt hatte. Hector versuchte sich hastig vor das Mädchen zu schieben, doch der Direktor der Raritätenschau hatte Alyss längst entdeckt.
»Ihr wisst doch genau, dass ich es nicht mag, wenn ihr hier das Gesindel vom Jahrmarkt reinlasst.« Er wies mit einer Handbewegung über die Kisten, den Kleiderständer, die Truhen, die ausgestopfte Raubkatze und den Korb mit den Messern und Äxten. »Als Nächstes sendet ihr noch ’ne persönliche Einladung aus, dass es hier was zu klauen gibt.«
»Al...«, begann Aurelia und hielt gerade noch inne, bevor sie den Namen ganz aussprach. »Al«, fuhr sie fort, »ist in Ordnung und ein ehrlicher Junge.« Dabei betonte sie das Wort Junge. Man sah, wie ihre Gedanken rasten. »Er ist der Bruder der Milchmagd. Er hat uns nur Milch gebracht.«
Hector nickte heftig, wie um ihre Aussage zu bestärken.
»Ach ja? Ist es üblich, dass ihr Lieferanten gleich zum Frühstück einladet.« Er deutete auf Alyss, die immer noch den Milchkrug in der Hand hielt.
Hastig setzte sie ihn ab und wischte sich mit der Hand über den Mund. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Der Mann hatte sicher auch die Flugblätter gesehen. Doch er beachtete sie nicht weiter.
»Wo ist der schwarze Umhang mit dem roten Futter?«
Aurelia schob einen Hocker neben die Kleiderstange, die von der Decke hing, und machte sich an den Klamotten zu schaffen. Einen Augenblick später hatte sie gefunden, was Master Tubney suchte. Er packte den Umhang und schritt zurück zum Durchgang. Dort angekommen, drehte er sich nochmals kurz um.
»Euer Freundchen hier muss verschwinden.« Er schob die Perlenschnüre auf die Seite und verließ das Zelt. Die Perlen klirrten noch, als er längst gegangen war.
»Jetzt, wo er dich gesehen hat«, brach Aurelia als Erste das Schweigen, »musst du wirklich schnell weg. Zwar kann er nicht lesen, aber er kann sich’s sicher zusammenreimen. Und wenn er erst von der Belohnung hört, dann ist alles aus. Schwuppdiwupp, und du sitzt hier in der Falle.«
»Ki...Kiste verstecken«, schlug Hector vor. Er deutete auf die Kiste, auf der die ausgestopfte Raubkatze immer noch die Zähne bleckte.
»Da drin kriegt sie keine Luft«, meinte Aurelia ernst. »Nein, wir müssen einen anderen Weg finden.«
»Ich geh zum Pfandhaus«, erklärte Alyss kurz entschlossen. »Jack hat mir sowieso gestern angeboten, dass ich eine Weile bei seiner Bande wohnen kann.« Auch wenn ihr Moll unheimlich war, musste sie den Mut aufbringen, dort um Hilfe zu bitten. Zumindest wäre sie bei den Taschendieben und vor allem bei Jack, der ihr schließlich schon einmal das Leben gerettet hatte, solange sicher aufgehoben, bis Sir Christopher von seiner Reise zurückgekehrt war. Denn Onkel Humphrey käme wohl nie auf die Idee, dort nach ihr zu suchen, wenn niemand sie verpfiff. Und wer weiß, vielleicht standen die Sterne zur Abwechslung mal günstig für sie, und Moll hatte den Salamander wieder aufgetrieben.
Sassa runzelte die Stirn. »Ich trau der Frau in Männerhosen mit dem komischen Tier nicht, aber ich hab auch keine bessere Idee. Ich komm jedenfalls in ein paar Tagen vorbei, um zu schauen, wie’s dir geht. Das verspreche ich dir.«
»Danke«, meinte Alyss schlicht. Dann wandte sie sich an die anderen beiden. »Vielen Dank für alles.«
»Ach was«, erwiderte Aurelia. »Ist doch nicht der Rede wert.« Sie blinzelte mit den Augen und schniefte kurz.
Hector sagte nichts. Stattdessen hob er Alyss hoch in die Luft, drückte sie fest und wirbelte sie dann im Kreis herum. Dabei stiegen auch Alyss Tränen in die Augen. Ihr Vater hatte sie früher genauso im Kreis herumgewirbelt. Als der Riese sie wieder auf dem Zeltboden absetzte, wischte sie sich die Tränen schnell aus den Augen.
»Wir sehen uns wieder«, tröstete Sassa sie. »Das weiß ich genau, denn ich hab’s geträumt.« Dann zwinkerte er ihr zu. »Außerdem hab ich noch keine Gelegenheit gehabt, dir zu zeigen, wie man einen Bogen hält und mit Pfeilen schießt.«
Alyss lächelte. Sassa hatte ihr versprochen, ihr Unterricht im Bogenschießen zu geben. Hoffentlich täuschte er sich mit dem Wiedersehen nicht, denn Alyss wollte die neuen Freunde, die sie in nur kurzer Zeit gewonnen hatte, nicht verlieren.